Der gerade Weg, ihr Mönche,

zur Läuterung der Wesen,

zur Übersteigung von Sorge und Jammer,

zur Beendigung von Schmerz und Bekümmernis,

zur Erlangung des Heilsstandes,

zur Erfahrung des Nibbana,

das sind die vier Pfeiler der Selbstbeobachtung.

(Majjhima Nikaya 10)

 

Satipatthana, die vier Pfeiler der Selbstbeobachtung. Auch übersetzt mit "Die Pfeiler der Einsicht" oder "Die Achtsamkeitspfeiler" oder "Die Grundlagen der Verinnerung" oder "Grundlagen der Achtsamkeit". Berühmt geworden ist das Buch des ehrwürdigen Nyanaponika Mahathera über Satipatthana mit dem Titel: "Geistestraining durch Achtsamkeit".

Die Aussprache von Satipatthana lautet übrigens: ßatipatt-haana.

Satipatthana ist kein logisches oder unlogisches, folgerechtes oder nicht folgerechtes Denken. Kein Sinnen und Erwägen, kein denkerisches Konstruieren und Spekulieren, überhaupt keine Angelegenheit des Intellekts, sondern ein stilles Beobachten der mit dem eigenen Leben verbundenen inneren Vorgänge. Es ist auch nicht mehr jenes Ringen und Kämpfen des Tugend übenden Menschen mit den nach außen gerichteten oder gar üblen Regungen und Neigungen des Herzens in dem Bemühen, sich sauberer, heller, größer und freier zu machen - das ist hier bereits geschehen - es ist überhaupt keine Angelegenheit der wogenden Bewegung, sondern eben jenes stille Beobachten der mit dem eigenen Leben verbundenen inneren Vorgänge.

Und Satipatthana ist auch noch nicht jener stille Friede, zu dem die Satipatthana-Übung erst hinführen wird.

Die Mönche zur Zeit des Erwachten, die unter der Anleitung des Erwachten standen und zu deren Zeiten die Entrückungen (jhana) eine ganz bekannte, von fast allen in der Läuterung fortgeschrittenen Mönchen erfahrene Erscheinung war, wussten es entweder aus eigener Erfahrung oder aus der Erfahrung ihrer fortgeschrittenen Mitbrüder: Die Satipatthana-Übungen, so wie der Erwachte sie beschriebenen hat, werden dann durchgeführt, wenn man sie durchführen kann, weil man sati in ausreichendem Maße erworben hat. Sati, das von allem Außen, von aller Weltlichkeit völlig abgezogene Beobachten, das Eingedenksein der inneren Vorgänge am Körper, bei den Gefühlen, beim Herzen und bei den Erscheinungen. Und dazu ist man dann fähig:

Wenn man die heilende rechte Anschauung über den Samsara und die Wandelbarkeit und Wesenlosigkeit aller Erscheinungen erworben hat,

wenn man durch Übung in Tugend und brüderlich-schwesterlicher Gesinnung im Gemüt hell geworden ist,

durch die weiteren vom Erwachten genannten Übungen immer gesammelter, selbstständiger und von der Welt unabhängiger geworden ist,

wenn man durch die Erfahrung der seligen Entrückungen nichts anderes mehr will als die restlose Befreiung von allem Vergänglichen.

In einem Gespräch zwischen dem Erwachten und Ananda (Majjhima Nikaya 105), in welchem Ananda seine Sorge über die Entwicklung des Ordens nach der Erlöschung des Erwachten ausdrückt, wird von Ananda ausdrücklich bestätigt, dass die gesamten derzeitigen Mönche und Nonnen im Orden des Erwachten über Sinn, Bedeutung und Praxis sowohl der Satipatthana-Übung als auch mancher anderer Übungen nicht die geringsten Zweifel und auch keinerlei Meinungsverschiedenheiten hätten.

Sati heißt: "sich erinnern". Wenn der Erwachte von Sati spricht, dann ist darunter im engeren Sinne zu verstehen, dass man nicht, wie es menschenüblich ist, an diese oder jene interessanten oder schrecklichen Dinge in der Welt denkt, sondern dass man sich der Lehre erinnert, dass man das Bild der Existenz vor Augen habe, das er mit der Lehre zeigt. Darum ist "Wahrheitsgegenwart" eine zutreffende Übersetzung. Im weiteren Sinne ist mit Sati gemeint, dass man bei sich selbst bleibt, seine eigenen inneren Vorgänge im Empfinden und Denken beobachtet - darum ist auch "Selbstbeobachtung" eine zutreffende Übersetzung - und sie, wenn erforderlich, dahin lenkt, wie man sich durch die Lehre angeleitet sieht. Sati bedeutet also erstens, insgesamt die Entwicklung auf das Heil hin im Auge zu haben - zweitens sich der jeweiligen körperlichen, geistigen und triebhaften Vorgänge bewusst zu sein, diese zu beobachten.

Der Erwachte vergleicht denjenigen, der Satipatthana übt, mit einem Menschen, der eine bis ganz zum Rand mit Wasser gefüllte Schale vorsichtig über den Marktplatz tragen muss. Auf diesem Platz ist lustiger Jahrmarkt, interessante Schaustellungen werden geboten, auch die Schönste des Landes ist erschienen, zeigt sich dort und führt ihre Tänze auf. Darum streben die meisten Menschen des Städchens zum Jahrmarkt. Aber dieser Mensch hat auf die Schale acht zu geben, dass kein Wasser herausläuft, und kann darum nicht auf die Schaustellungen achten und kann nicht mit den anderen Menschen ausgelassen sein. Indem wir uns die Situation vorstellen, erkennen wir, dass es dem Menschen, der an dem Jahrmarkt der Welt und an den Menschen hängt, ganz unmöglich ist, ständig die Schale im Auge zu haben.

Und das Gleichnis hat noch einen viel ernsteren Charakter, denn es heißt, dass hinter diesem Menschen ein Scharfrichter mit gezogenem Schwert geht, bereit, ihm das Haupt abzuschlagen, wenn dem Menschen durch seine Unachtsamkeit auch nur ein Tröpfchen Wasser verlorengehe. Dieses Gleichnis bedeutet kein befehlendes "du sollst Satipatthana üben", sondern ist ein Hinweis auf die tiefe, todüberwindende Bedeutung dieser Übung. So wie ein Mensch auf dem Jahrmarkt, der der Schale nicht achtend, das Wasser vergießt, eben darum dem Tode verfallen ist, so auch bleibt der Mensch, der dem Jahrmarkt des Lebens verhaftet bleibt, der diesen Prozess der Entfremdung gegenüber der Welt und der ununterbrochenen, immer tieferen Selbstbeobachtung an sich vollzieht, dem Tode verfallen, dem Bereich des Todes verfallen, ob er sich auch lebend wähnt.

Wer sich nun diese geistigen und seelischen Voraussetzung (die an dieser Stelle nicht vollständig ausgeführt werden können) erworben hat, der kann ungehindert, unbeschwert, unbeklommen mit den Satipatthana-Übungen beginnen; der wird bei der Durchführung der Übungen den verheißenden Erfolg haben. Ohne aber diese Voraussetzungen geschaffen zu haben, wird sein Bemühen diesen Erfolg nicht haben.

Der erste Pfeiler der Selbstbeobachtung

Zunächst geht es um die Achtsamkeit, der Beobachtung der Atembewegung. Es ist keine Atemübung im Sinne einer Atemgymnastik, wie im hinduistischen Yoga.

Indem der Mönch seine Aufmerksamkeit nur auf den Atem richtet, den Atem beobachtet und dabei die weltlichen Dinge mehr und mehr vergisst, da entdeckt er für sich den Leib in ganz anderer als der bisherigen Weise. Immer deutlicher dringen in sein Bewusstsein die mehr oder weniger gleichmäßigen Atemzüge, der Rhythmus des Einatmens und Ausatmens. Er merkt immer deutlicher die Anwesenheit jener Dampfmaschine, die da einpumpt und auspumpt.

Als nächstes folget die Beobachtung der Körperhaltung. Während die Atembeobachtung nur im Sitzen vollzogen und dabei der atmende Körper entdeckt wurde, geht es darum, den so entdeckten Leib in allen seinen Stellung und Bewegungsformen unter Beobachtung zu halten.

Der Lehre eingedenk, klarbewusster Einsatz des Körpers ist die nächste Übung. Die Quantität der Beobachtung und Kontrolle ist bei dieser Übung erheblich höher und größer als bei den vorherigen. Es geht jetzt um Alles und Jedes, was ein von der rechten Anschauung durchdrungener, auf dem Wege der Läuterung bereits so weit fortgeschrittener Mönch überhaupt noch mit dem Leibe macht: hinblicken, wegblicken, kauen, schmecken, entleeren, einschlafen und aufwachen, reden und schweigen. Hier ist eine lückenlose, ununterbrochene Beobachtung.

Nachdem der Leib in seiner Werkzeughaftigkeit vollkommen durchschaut und gehandhabt wird, gilt es dann zu erkennen, dass der Eindruck der Ganzheit des Leibes eine Täuschung ist und dass, wo wir vom Körper sprechen, in Wirklichkeit eine Ansammlung von vielen Einzelheiten ist. Es werden die einzelnen Körperteile, der "Sack voller Organe" betrachtet.

Die nächste Übung in der Reihe der Körperbetrachtung lautet: "Weiter sodann, ihr Mönche, der Mönch schaut sich diesen Körper da, wie er geht und steht, nach seinen Grundarten an: dieser Körper besteht aus Festigkeit, Flüssigkeit, Wärme und Luft." Der Erwachte nennt hier die vier Zustände, die es bei aller sogenannten "Materie" immer nur geben kann.

Zum Schluß folgt die Leichenbetrachtung. Bei diesem (hier nicht zitierten) Text mag mancher Leser sich strapaziert fühlen und mehr oder weniger erschreckt sein. Das liegt daran, dass der westliche Mensch sich in der Regel mit seinem Körper identifiziert, dass er also beim Gedanken an die Leiche auch zugleich die Vernichtung des betreffenden Wesens mitdenkt. Das ist völlig anders gewesen im alten Indien.

Worauf der Mensch seinen Blick lenkt oder was er hört oder woran er denkt, das ist ihm Objekt. Das unterscheidet er von sich selbst als Subjekt. Die gesamte Körperbetrachtung dient dazu, dass immer mehr die Erfahrung erfahren wird: "Dies gehört mir nicht, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst."

Der zweite Pfeiler: Die Beobachtung des Gefühls

Das "Gefühl" nimmt eine Schlüsselstellung im menschlichen Leben ein. Durch die vom Erwachten empfohlene gründliche Beobachtung der auf und ab steigenden Gefühle werden bei dem Beobachter die Gefühle verfeinert, geläutert und beruhigt, weil alle größeren Gefühle, die durch die "gröberen körperlichen Regungen", durch das Eingepflanztsein in den Körper entstanden, zur Ruhe kommen.

Dazu ist es aber nötig, zu betrachten, was das ist, was wir "Gefühl" nennen, und wie es zustande kommt. Der Erwachte schildert in den Lehrreden sehr häufig den seelischen Prozess, innerhalb dessen Gefühl und Wahrnehmung entstehen und vergehen: Zuerst Aufkommen von Wahrnehmung durch die Sinnestriebe, unmittelbar danach wird von jedem normalen Mensch Stellung zu dem Wahrgenommenen genommen. Das ist die Erwägung. Darin wurzelt der Wille. Wille ist nichts anderes als das Ergebnis der Erwägung, sei es, dass man positiv oder negativ auf die Sache reagiert, sei es, dass man sie auf sich beruhen lässt. Mit dem Gefühl, dem Fühlen erst "merkt" der Mensch etwas und nimmt es dadurch wahr.

Der Erwachte sagt, dass die Berührung der Anstoß für das Aufkommen von Gefühl sei. Was wird berührt? Die Tendenzen. Die Tendenzen sind nichts anderes als ein drängendes Auf-etwas-aus-Sein, und zwar ist jede Tendenz auf eine bestimmte Berührung aus, eine jede Tendenz auf eine andere. Die gesamten Tendenzen sind "inkarniert", d.h. eingefleischt in den Leib. Sie sind so innig in den Leib übergegangen wie etwa der Stoß, den man einem im Wasser liegenden Boot versetzt, in das Boot übergegangen ist und ihm die Tendenz nach vorn gibt. Die auf Sehen gerichteten Tendenzen z.B. wohnen im Auge. Näheres siehe im Kapitel: 6 Sinne.

Die Anleitung des Erwachten zur Beobachtung der Gefühle betrifft die Anzahl der Gefühle, die Qualität der Gefühle und der Kraft oder Stärke oder Gewalt der Gefühle.

Es zeigt sich bei der Beobachtung der Gefühle eindeutig, dass nicht, wie der unbelehrte Mensch meint, das Gefühl durch die Wahrnehmung bedingt ist, sondern vielmehr die Wahrnehmung durch das Gefühl; und zugleich sehen wir, dass das Gefühl nicht von den Objekten herkommt, sondern von den Tendenzen. Durch diese beiden Irrtümer des unbelehrten Menschen ist auch seine falsche Geisteshaltung bedingt, die wiederrum die echte Beobachtung der Gefühle verhindert.

Der belehrte Mensch weiß, dass es bei der Beobachtung der Gefühle darum geht, dass der Beobachter das Auf- und Absteigen der Gefühle aus ihren Bedingungen beobachtet. Dadurch macht man nicht mehr die Wandlung der Gefühle mit, wird nicht mehr von den Gefühlen herumgeschleudert wie ein Boot auf den Wogen des Meeres.

Was beobachtet werden soll, das muss man irgendwie vor sich stellen, dem muss man irgendwie gegenüberstehen, sonst kann man nicht beobachten. Die geistigen Voraussetzungen für die Beobachtung der Gefühle reichen so lange noch nicht aus, als es den Menschen nicht möglich ist, sich innerlich von den auf- und absteigenden Gefühlen zu lösen und einen gleichbleibenden festen Blickpunkt einzunehmen. Man muss nicht zuletzt in der Beobachtung des Körpers ganz erhebliche Fortschritte gemacht haben für die Gefühlsbeobachtung und auch die Sati-Fähigkeit ganz erheblich ausgebildet haben. Sodann kann oder sollte man durch die Übung erkennen, dass das Gefühl nicht mehr zum Ich-Erlebnis zählt.

Der dritte Pfeiler: Die Beobachtung des Herzens

Zusammenhang und Unterschied zwischen Gefühl und Herz sind: Das Gefühl tritt deutlich spürbar in Erscheinung. Das Herz dagegen, jenen tiefen im Hintergrund und Untergrund verborgenen schweigenden Regungen der gesamten Tendenzen, ist der dem normalen Menschen unbewusste Veranlasser und Auslöser der Gefühle und Empfindungen. Diese Beobachtung geht außerordentlich tief. Es geht hier um die Beobachtung des verborgenen "Innen" des Herzens, der Psyche, der Seele.

Der vierte Pfeiler: Die Beobachtung der Erscheinungen

"Die Erscheinungen", die nach der Beobachtung des Körpers, der Gefühle, des Herzens noch aufkommen und von dem Beobachter als an Vergängliches haltend und darum als unzulänglich beurteilt werden, sind die eines weit, weit geläuterten Menschen, der nur noch von feinen Regungen des Herzens und Geistes bewegt wird. Es ist die Spitze der Selbstläuterung.

Es geht um die Beobachtung a) der fünf Hemmungen, b) der fünf Aneignungen bzw. Zusammenhäufungen, c) der sechs auf Berührung von Sinnendingen gespannten Süchte, d) der sieben Erwachungsglieder und e) der vier Heilswahrheiten.

Für diese Punkte (a-e) gibt es jeweils ein extra Kapitel (siehe dort).

Schlussbetrachtung

Der Zweck der Satipatthana-Übung ist, alles Vergängliche, Unbeständige, Verletzbare - die naiverweise zum Ich gezählten Funktionen, Eigenschaften und Gedanken - in ihrem Funktionieren zu sehen - bis hin zum Entstehen und Sichentfalten der sieben Erwachungsglieder, die in das Todlose, das Unvergängliche, das Nirvana, einmünden.

So noch einmal der Hinweis: Der Satipatthana übende Mönch ist zwar nicht Tag und Nacht ununterbrochen in der Einsamkeit, aber es ist ein Unterschied, ob der Mönch einmal am Tage einen Bettelgang zu machen hat und die ganze übrige Zeit in der stillen Beobachtung z.B. des Atems weilen kann oder ob der Hausvater oder die Hausmutter den ganzen Tag den mannigfaltigsten Angehungen ausgeliefert ist, mehr oder weniger in Begehren und Abneigungen hineingeflochten ist und dann vielleicht einmal am Tage fünf Minuten  oder zehn Minuten oder eine halbe Stunde sich zurückziehen kann zu dem zwangvollen Versuch der Atembetrachtung.

Und ein noch größerer Unterschied besteht zwischen einem, der an den Eindrücken der Vielfalt festhält, sich mit ihnen weiterhin im Geist beschäftigt, so dass sie das ganze Gemüt durchwirren wie aufgewirbelter Staub, und einem fortgeschrittenen Mönch, bei dem jedes sinnliche Erlebnis aus vollkommenen Mangel an Interesse unmittelbar nach der Begegnung hinabsinkt in das Vergessen, gleichwie der Staub in luftleerem Raum nicht bewegt wird.