Was bedeuten "Fesseln" in der Lehre des Buddha?

Das Pali-Wort samyojana, um das es hier geht, wird meist mit "Fesseln" übersetzt.

Paul Debes benutzt das Wort "Verstrickungen".

 

Zunächst eine Bemerkung zu der Übersetzung mit "Verstrickung":

Samyojana hängt mit yoga zusammen, ist also Angejochtsein. Der Mensch ist nach seiner Natur zehnfach angejocht, eingewöhnt, verstrickt und vernestelt durch jene zehn Gewöhnungen. Die Übersetzung von samyojana mit "Fessel" erschwert das Verständnis. Fesseln löst man mit einem einmaligen Schnitt, dann ist man frei. Verstricktsein bedeutet, dass man immer wieder in die alte Gewöhnung zurückfällt. Es ist ein vielfältiges Gebundensein, ein Verstricktsein durch viele kleine positive Bewertungen.

Es ist nicht so, dass der Mensch diese zehn Verstrickungen "hat" - was bedeuten würde, dass er auch ohne sie Mensch sei - vielmehr bewirken allein diese zehn Verstrickungen und Gewöhnungen überhaupt erst jene Wahrnehmungen, Empfindungen, die - wie ein Traum - zu dem überzeugenden Eindruck und darum zu der Auffassung "Ich bin in der Welt" führen. Was wir also "Mensch" nennen und als "Ich bin in der Welt" erfahren und bezeichnen, davon sagt der Erwachte: Es ist nichts anderes als jenes wirre Knäuel zehnfach verschiedenartiger untereinander verfilzter Verstrickungen.

1. Der Glaube an Persönlichkeit (sakkaya-ditthi)

Der Begriff sakkaya gehört als solcher zu den seltenen vom Buddha erst gebildeten Begriffen, weil die Erkenntnis ihrer Inhalte nicht möglich war, bevor ein Erwachter erschienen ist. (Zu weiterem Studium siehe unten bei Quellenangaben.)

Die erste Verstrickung ist die Befangenheit des Geistes und des Gemütes in der Vorstellung, ein Ich in einer Welt zu sein. Der Geist kommt zu dieser Vorstellung, da er sich mit dem, was die Triebe, die Sinnensüchte wollen, identifiziert. So stark, wie die drängenden Triebe der sechs auf Berührung gespannten Süchte sind (sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken) und das von ihnen ausgehende Weh- oder Wohlgefühl, so stark sammelt sich das "Ich-bin" Gefühl im Geist. Weil der Geist die Fähigkeit des Verbindens und Ordnens der Eindrücke hat, vergisst er bei allen normalen Menschen, dass er vorwiegend Meldestelle für die fünf Sinnesdränge ist. Er identifiziert sich mit den jeweils ankommenden Meldungen so, als ob sie von ihm kämen, und hat die Auffassung, Zentrum einer als Ganzheit und Einheit aufgefassten Person zu sein, obwohl sie die Summe der Sinnesdränge ist.

Dieses durch die Triebe bedingte Ich-bin-Denken befestigt nun auch von der Anschauung her den Triebehaushalt. Wer da glaubt, dass er einer ist, der denkt normalerweise im triebmehrenden Sinne, wenn er auch immer wieder auf vordergründiges Wohl verzichtet, um zukünftiges Wohl nicht zu gefährden, wozu auch die Beachtung der Interessen anderer gehört.

"Ich" ist Einbildung, ist ein illusionärer Name für die Summe von Bedürfnissen, Bezügen. Der Ich-Gedanke ist die schlimmste Falle Maros, der Verkörperung des Üblen, weil der die Menschen im Gefängnis ihres Körpers hält; und die Aufhebung des Persönlichkeitsglaubens ist der Schlüssel zur Freiheit.

Die Aussage des Erwachten: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst" bezieht sich auf die ganze Existenz, d.h. auf die fünf Aneignungen, Zusammenhäufungen (Pali: Khandas), in denen das enthalten ist, was eben als Zusammenspiel von Sinnendrängen und Geist geschildert wurde.

Solange der Mensch auf die Rieselkette der Erscheinungen setzt und durch ich-vermeinendes Denken die Triebe erhält und erschüttert ist durch das Schwinden, den Untergang der Erscheinungen und sich nicht von ihnen abwendet, so lange gibt es Triebe, gibt es Anziehung, Abstoßung und Blendung und wird damit Geborenwerden, Altern und Sterben erfahren. Die Triebe sind der Bauplan und das Kernelement des nächsten Körpers. Wenn Anziehung zu tierischen, gespensterhaften Dingen besteht, wird ein Dasein in solcher Welt erlebt, aber nicht Befreiung.

Der Glaube an Persönlichkeit, die Identifikation mit den Trieben, ist die Ursache dafür und der wird erhalten durch die Auffassung im Geist, dass ein Ich einer Welt gegenüberstünde, ein großes psychisches Kraftzentrum, Zuneigung zu bestimmten Dingen und Abneigung gegenüber anderen. Das nennt man einen magischen Zusammenhang: Alle Angst, alle Freudigkeit, alle Schmerzen und alle Endlosigkeiten sind durch ich-vermeinendes Denken erhaltene traumhafte, faszinierende Erscheinungen.

Wer aber meinen würde, nach Aufhebung des Glaubens an Persönlichkeit könne ihn die blendende Erscheinung eines Wahn-Ich und der Wahn-Umwelt nicht mehr hemmen, der täuscht sich, denn das "Ich-bin-Empfinden", die achte, drittletzte Verstrickung, ist mit der Aufhebung des Glaubens an Persönlichkeit (erste Verstrickung) noch längst nicht aufgehoben.

Bis die endgültige Erwachung aus dem Wahntraum erreicht ist, bedarf es eines Prozesses, denn trotz der Durchschauung geht das Wahnspiel, das Blendungsspiel zunächst noch weiter.

2. Daseinsbangnis, Zweifel (vicikiccha)

In dem Maße, wie allmählich die Identifizierung mit dem Wahn-Ich abnimmt, erfährt der Nachfolger eine zuerst nur sehr feine, aber wohltuende Wandlung der Selbsterfahrnis, des Daseinsgefühls. Das Daseinsgefühl ist bei allen Menschen von einer meistens unbewussten, oft aber über die Bewusstseinsschwelle dringenden Ungeborgenheit und Unsicherheit durchzogen.

Der Erwachte vergleicht diese Situation des normalen, von der Daseinsunsicherheit und dem bangen Gefühl der Ungeborgenheit bewusst oder unbewusst begleiteten Menschen mit einem Mann, der mit seinem ganzen Vermögen durch eine fremde gefährliche Wildnis zieht, in der er jeden Augenblick einen Überfall auf Leben und Gut zu befürchten hat.

Die Daseinsbangnis ist eine im Geist gefühlte, gemüthaft beklemmende Unsicherheit über das bevorstehende Erleben. Es betrifft nicht die Angst vor körperlichen Schmerzgefühlen, die so lange besteht, wie Triebe nach Sinnendingen befriedigt werden wollen, sondern betrifft vor allein die existentielle Sorge, wie sie heute z.B. auch bei den Schlagworten "Umweltverschmutzung, Klimawandel" usw. empfunden wird.

Jetzt aber wird ein Schwinden dieser existenziellen Grundangst erfahren. Eine feine, wohltuende Wandlung des Daseinsgefühls. Durch ein Zurücknehmen der Identifizierung mit den fünf khandas (Form, Gefühl, Wahrnehmung, Aktivität, programmierte Wohlerfahrungssuche) erfährt der Mensch unmittelbar und ganz ohne anderweitige Belehrung, dass diese Daseinsbangnis mit der Ichvorstellung verbunden war, dass überhaupt diese Ichvorstellung der Kern der gesamten Verletzbarkeit ist.

Durch die Aufhebung der zweiten Verstrickung gibt es das freudige Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit. Dieses Gefühl kann die weltlosen Entrückungen (jhanas) einleiten, die eintreten können, wenn die fünf Hemmungen (siehe dort) aufgehoben sind.

Zweifel an der Lehre des Buddha entschwinden, wenn man ihre Richtigkeit überall im Leben wiederfindet und die Lebenserfahrung zunehmend mit der Lehre im Einklang steht. Schon indem man intensiv um Tugendläuterung bemüht ist, wird alles erstaunlich leichter und problemloser. Immer mehr Spannungen und Irritationen, in mir und der Umwelt, lösen sich.

3. Das (sittliche) Begegnungsleben als das Höchste ansehen (silabbata-paramasa)

Mit der durch den Wahn bedingten Aktivität der Wesen bleibt der Rundlauf der Wahnszenen erhalten: Immer sinkt eine durch die Begegnung nur etwas geänderte, aber nicht aufgelöste Szene nach der anderen in die "Vergangenheit" und rinnt mit allen unerlösten Szenen als die Daseinsströmung jenseits unserer Erfahrbarkeit - aber nicht jenseits der Erfahrung des Erwachten - den für uns unübersehbaren Rundweg dahin und tritt früher oder später wie aus "Zukunft" auftauchend wieder heran.

Das vor Augen Liegende, das mit den fünf Sinnen Erfahrbare und Zugängliche wird überschätzt, man hält es für das Ganze, ist davon angetan, beeindruckt, gefesselt und daher abhängig. Durch die Belehrung weiser Menschen oder eines Buddha wird die Verbesserung der Tugend angestrebt und das bedeutet die Entwicklung von hilfsbereiten und wohlwollenden Begegnungsweisen, die Minderung aller Arten von Hass und Zorn.

Der Palibegriff für diese dritte aufzugebende Verstrickung wird oft übersetzt mit "Sich Klammern an Regeln und Riten" oder "Sich Klammern an Tugendwerk".

Aber wer verstanden hat, dass in der Begegnung und mit der Begegnung - mit der harten, rohen wie mit der sanften, hellen - keine Sicherheit und kein Heil endgültig erreichbar ist, dass alle Begegnung zum Wahnbereich gehört, aus dem es zu erwachen gilt - der fasst den weitreichenden und tiefen Sinn dieser Verstrickung. An dieser oder jener Begegnungsweise festhalten - und sei es die beste, tugendhafteste -, also selbst ein Begegnender bleiben wollen, das ist die Verstrickung, mit welcher man nicht über den Begegnungsbereich hinaus, aus dem Strom der Wahnträume herauskommt.

4. Sinnenlust (kama-raga)

Jemand, der die ersten drei Verstrickungen gelöst hat, wird zum Heilsgänger. Und so wie die Flüsse und Ströme nicht ruhen können, bis sie angelangt sind und eingemündet im Weltmeer, so kann ein solcher Heilsgänger (sotapan) nicht ruhen, bis er die übrigen Verstrickungen aufgelöst, die heile Situation, in deren Anziehungskreis er unwiderruflich eingetreten ist, auch endgültig erlangt hat.

Die Erinnerung an das erfahrene Wohl der Sicherheit mahnt den in den Strom Eingetretenen, es wieder anzustreben, und dieser Anblick des Unverletzbaren entzieht allmählich den Trieben die Kraft. Er erfährt eine Befremdung dem Mechanismus der eigenen seelischen Vorgänge gegenüber und hat damit die Möglichkeit, das "Ich" in seinem Umgang mit dem Begegnenden zeitweilig mit Abstand zu beobachten, zeitweilig zu beeinflussen, zurückzuhalten, loszulassen, weil er weiß: "Kein Ding lohnt, darin zu wohnen."

Darum denkt der Heilsgänger, wenn er durch negative sinnliche Erlebnisse getroffen ist, nicht lange noch darüber nach, beschäftigt sich nicht lange damit; aber auch bei erfreulichen Dingen, die nicht die Heilsentwicklung fördern, strebt er bald wieder eine Ruhe des Gemütes an.

Es ist ein Untergrund erwachsen, der schon unverletzbar, unbeeinflussbar ist. Wenn keine starken Erlebnisse eintreten, die ihn ablenken, dann ist in seinem Geist der rechte Anblick, und alles andere ist durchsetzt davon. Darum sagt der Erwachte von dem in die Heilsströmung Eingetretenen, dass bei ihm schon manche Beeinflussbarkeiten, einige Triebe endgültig aufgehoben sind.

5. Übelwollen, Nächstenblindheit (vyapada)

Auch die Aufhebung der fünften Verstrickung, die nur mit der Sinnenlust zusammen auftritt, trägt zur Beruhigung und zusätzlich noch zur Erhellung des Gemütes bei. Vyapada bedeutet, wie seine ausdrückliche Gegenüberstellung zu metta, der Nächstenliebe, zeigt, die Nichtbeachtung der Neigungen und Bedürfnisse des Nächsten. Diese Nichtbeachtung kann mit und ohne Übelwollen, mit und ohne Gehässigkeit geschehen, nämlich durch eine gewisse Nächstenblindheit, die hauptsächlich bedingt ist durch die vierte Verstrickung, die starke Neigung nach sinnlichem Genuss. Der egozentrische, nächstenblinde Mensch stellt seine Interessen über die der Mitwesen, behandelt sie wie Sachen. Wenn sie für seine Interessen taugen, so beachtet er sie; wenn sie seinen Interessen im Wege stehen, dann wendet er sich ab oder betreibt ihr Verschwinden.

Der Erwachte vergleicht die menschlichen Herzen mit einem Gemisch von Sand und Gold (Anguttara Nikaya III, 99). Als Sand gelten die innewohnenden schlechten Eigenschaften, die aus Nächstenblindheit entstehen, wie kalte Rücksichtslosigkeit, Zorn, Wut, Groll, Stolz, Neid und Geiz, Starrsinn, Streitsucht usw., und auch das aus Nächstenblindheit hervorgehende üble Betragen im Reden und Handeln.

Alle Eigenschaften, die aus liebender Fürsorge und Wohlwollen hervorgehen, wie Verständnis, Nachsicht, Rücksicht und Schonung, Fürsprache und Förderung und Freude am Erfreuen des anderen - und auch das aus all dem hervorgehende gute Verhalten im Reden und Handeln - das sind die Eigenschaften, die das "Gold" ausmachen, von welchem der helle innere Wohlklang, das helle gute Grundgefühl des Menschen ausgehen.

In diesem Gemisch von Sand und Gold befindet sich unser aller Herz, und je nach dem Gemisch ist unser Grundgefühl, das unabhängig von dem Begegnenden ist.

Aber nicht nur aus der Lehre des Erwachten, sondern aus der Läuterungspraxis in allen anderen Religionen liegen Berichte darüber vor, dass ein Mensch, der an der Reinigung seines Herzens von den üblen Eigenschaften - an seiner Läuterung - arbeitet, im Laufe der Zeit auf die feine Wandlung seines inneren Grundgefühls aufmerksam wird. Er richtet seine Aufmerksamkeit immer mehr darauf, dieses sein eigenes Wesen in seinem eigenen Interesse immer mehr zu reinigen und zu erhellen und, wie die Goldgräber, immer mehr den "Sand" zu entfernen.

In diesem Sinne sagt z.B. Meister Ekkehart:

"Wer Geduld hat und den Weg

in rechter Weise beschreitet,

der findet in der Tugend

und in der Herzensläuterung

genug an Honig und Süße,

um mit dieser Wegzehrung

Traurigkeit und Trägheit

zu überwinden."

6. Zug nach Form (rupa-raga)

Die ersten fünf Fesseln gelten als die "fünf unten haltendenden Fesseln", die Fesseln 6 bis 10 als die "emporziehenden Fesseln".

Der Erwachte sagt, dass es drei große Kategorien immer feinerer Selbst- oder Icherfahrnis gibt:

1. Grobe Selbsterfahrnis durch die Triebe der Sinnensucht (u.a. Menschenwelt)

2. Geistunmittelbare Selbsterfahrnis, unmittelbare Darstellung aus gedanklicher Vorstellung in formhaftem Erleben.

3. Formfreie Selbsterfahrnis, nur durch Gefühl und Wahrnehmung bedingte Selbsterfahrnis, aus Wahnehmung bestehend.

Die Mystiker unter den Menschen, die Erfahrer weltloser Entrückungen und Strahlungen, erleben sich als brahmisch rein von Sinnensucht (4. Verstrickung) und Übelwollen (5. Verstrickung), mit liebendem, erbarmendem Gemüt und mit still-heiterem Herzenswohl und gleichmütigem Gemüt strahlend. Es bleibt aber noch die "Ich-bin" Empfindung bestehen. Eine Lösung vom Formerlebnis ist noch nicht da. Es ist ein Begehren nach - reiner - Form geblieben.

7. Zug nach Formfreiheit (arupa-raga)

In formfreier Selbserfahrnis erfahren die Wesen aus der zartesten Bewegtheit des Herzens: Wahrnehmung, nur noch eine erhabene Empfindung. Gleichmut ohne Ereignisse und damit ohne Zeitdruck. Formfrei, gestaltfrei bedeutet, dass weder "Ich" in irgendeiner Form erscheint, noch irgendeine Umwelt, die formhaft wäre.

Selten gelangen die vom Erwachten belehrten Heilsgänger, die im Leben schon oft diesen Bereich der Selbsterfahrung erlebten, nach dem Tode dahin, da ihr Hauptanliegen ist, sich durch gedankliche Bewertung von allem Unbeständigen und damit Leidigen zu befreien. Denken aber ist in diesem Bereich der Friedenswahrnehmung zur Ruhe gekommen, deshalb ist dort auch keine Weiterentwicklung, es ist eine Pause im Samsara, aus der es irgendwann ein Auftauchen gibt, weil die Triebe nach Formfreiheit noch ein Dürsten nach Wahrnehmung sind - nach unbeständiger Wahrnehmung - wenn auch der Unbestand nach Äonen erlebt wird.

8. Ich-bin-Empfindung (mana)

Die achte Verstrickung entsteht automatisch durch die Triebe der Sinnensucht und die Triebe nach Reiner Form, die der vierten, fünften und sechsten Verstrickung zugrundeliegen.

Wie bereits näher ausgeführt, erzeugen die gefühlsbesetzten Wahrnehmungen des Sinnensüchtigen im Geist die wahnhafte Vorstellung: "Ich bin und die Welt ist. In dieser Welt muss ich Wohl zu erfahren suchen." Der normale Mensch meint, dass das angenehme oder unangenehme Gefühl, dass er bei der Wahrnehmung bestimmter Wesen oder Gegenstände empfindet, von den betreffenden Wesen oder Gegenständen ausgehe, an diese gebunden sei. Und darum wendet er sich immer denjenigen Wesen und Gegenständen zu, die er in Verbindung mit angenehmen Gefühlen wahrnimmt - und er wendet sich von solchen Wesen und Gegenständen ab bzw. tritt ihnen entgegen, die er in Verbindung mit unangenehmen Gefühlen wahrnimmt.

Dagegen hat der Erwache, der durchgedrungen ist zum gründlichen Hinblicken bis zum Grunde, festgestellt: Das Ganze, welches wir als "ich bin" erfahren und als "ich erlebe" erfahren, besteht aus dem Zusammenspiel von fünf Komponenten, die es eben an sich haben, dass sie den Eindruck einer Identität erwecken; aber dieser Eindruck ist eine Täuschung.

Es ist hier allerdings noch einem Missverständnis vorzubeugen: In den Lehrreden des Erwachten ist ein Unterschied festzustellen zwischen "Ich" (aham) einerseits und "Selbst" (atta) andererseits. In der konventionellen Sprache gebrauchet der Buddha den Ausdruck "Ich" ganz ebenso wie wir, spricht auch von "seiner" Jugend und "seinen" geistigen Kämpfen um die Erwachung, obwohl er in seiner Jugend unvergleichlich anders war als in seinem späteren Buddha-Stand, und er spricht auch über die durch seine universal gewordene Wahrnehmung erlangte Erinnerung an ungezählte frühere Existenzen stets in Worten wie: "Dort war ich, jenen Namen hatte ich" usw. , obwohl auch diese früheren Existenzformen von Leben zu Leben sehr, sehr unterschiedlich waren. Jede andere Person hat eine andere Lebensentwicklung d.h. einen anderen Komplex der fünf Zusammenhäufungen und andere kontinuierliche Veränderungsverhältnisse. So wie bei einem mächtigen Baum nicht zwei seiner Blätter "identisch" sind und wie bei einem in tausend Scherben zerbrochenen Krug nicht zwei Scherben identisch sind, so gibt es für die Begegnungswahrnehmung auch nicht zweimal fünf Zusammenhäufungen, die identisch sind und deren laufende Veränderung durch das ganze Leben völlig gleichartig verläuft. Insofern kann ich "mein" Ich von dem des "anderen" unterscheiden, doch bleibt es dabei: dieses "Ich" ist nur eine Bezeichnung für jenen bestimmten Aneignungskomplex und die ihm gemäßen Veränderungen.

9. Erregung (uddhacca)

Erregung ist eine Gemütsempfindung des Geistes, die eng an die Ich-bin Empfindung geknüpft ist. Solange da ein Ich empfunden wird, das Wünsche hat, so lange gibt es Erfüllung und Durchkreuzung dieser Wünsche und infolgedessen Gemütserregung. An die Ich-bin-Empfindung, die für die gesamte Ich-Darstellung gilt, ist auch die Verteidigung und der Wille, sich durchzusetzen, gebunden. Von daher entsteht im Geist Erregung, wenn dieses Ich sich angegriffen fühlt oder wenn in einer Gruppe von Menschen dieses Ich zur Geltung gebracht werden soll und sich bestätigt fühlt oder auch, wenn einer ungeduldig ist, dass er immer noch Welt erlebt oder immer noch nicht erlöst ist.

Diese Erregung steht und fällt also mit der Ich-bin-Empfindung. Erst wenn diese aufgehoben ist, ist auch Erregung verschwunden.

10. Wahn (avijja)

Wahn ist ein Ausdruck für den Täuschungs-, den Einbildungscharakter alles Erlebten, der durch die gefühlsbeladenen Eindrücke (Blendungen) entsteht, die der Geist bei der Berührung der Triebe mit den sechs Außengebieten bekommt. Die Triebe haben das zur Berührung Gekommene abgeschmeckt, und ihr Gefühlsurteil leuchtet im Geist auf. So haben die Wesen der Sinnensuchtwelt die knallroten Feuer der Dinge, die sie lieben und hassen, im Geist, in der Wahrnehmung. Daraus entsteht der Wahn, dass da ein wünschendes Ich einer gewährenden oder verweigernden Welt gegenüberstünde.

Durch Wahn bedingt, nur durch Wahn bedingt ist (von der im Wahn erscheinenden Person ausgehende) dreifache Aktivität (denken, reden, handeln) und dadurch letztlich alles Wohl und Wehe, alles Leiden mit immer sich fortsetzendem Geborenwerden, Altern und Sterben in allen Erlebensbereichen.

Und was der Erwachte, ja alle Erwachten und alle vom Wahn Geheilten, unter Wahn verstehen, das ist eben das, was der normale Mensch für sein normales Leben und Erleben hält: Die Kette der wohltuenden und schmerzlichen Begegnungswahrnehmungen, die - ganz so wie ein Traum - den Eindruck eines Ich in seiner Umwelt erwecken. Wo dieser Wahn herrscht, da handelt das erlebende Ich auch mit Taten, Worten und Gedanken an der Umwelt. Und dieses Wirken lässt wieder entsprechende Begegnungswahrnehmungen, wohltuende und schmerzliche, erscheinen und so fort ohne Ende - solange dieser Wahn besteht.

Wie wörtlich der Erwachte diesen Wahn, avijja, verstanden und begriffen wissen will, das zeigt er mit dem Satz:

"Ist aber dieser Wahn restlos verblasst und ausgerodet, so ist hier nicht Körper - so ist hier nicht Sprache - so ist hier nicht Geist, dessentwegen man Wohl und Wehe erfahren würde."

Das bedeutet in aller Konsequenz: Wer vom Traum erwacht ist, der findet keinen Träumer mehr vor. Alle körperlichen Situationen des Traumes sind verschwunden. Alle sprachlichen und gedanklichen Situationen des Traumes sind verschwunden.

Die Befreiung von den Banden des Wahns ist die Entwicklung von dem "gewöhnlichen Menschen" (puthujjano, der dem Samsara ausgeliefert ist) zu dem in die Heilsströmung Gelangten, der in seinen Wahntraum hinein unverlierbar den Weckruf des Erwachten gehört hat, den sotapanna.

Quellen:  Paul Debes: Meisterung der Existenz durch die Lehre des Buddha, Begriffe der Buddha-Reden. Hellmuth Hecker: Die Psychologie der Befreiung.