Der Erwachte sagt, dass alle Erlebnisse, die von Augenblick zu Augenblick am Tor der Gegenwart erscheinen, durch fünf Grundqualitäten gekennzeichnet sind.

 

 

Wir erleben uns als Verlangende, die von der Umwelt etwas erwarten. Durch sein eigenes Verlangen ist das erste Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung gekennzeichnet. Wenn der Mensch einmal nichts erlebt, das seinem vielfältigen Verlangen entspricht, dann kommt zwangsläufig Langeweile oder gar Verdruss auf. Dagegen unternimmt er etwas, oder es tritt ohne sein Zutun von außen etwas heran. Das wird sofort mit dem inneren Verlangen abgeschmeckt, ob es einem passt oder nicht passt, und entsprechend wird gehandelt. So sind wir selber Verlangende. Aber wir erleben auch die Umwelt als verlangend, fordernd und fühlen uns ihr verpflichtet. Verlangen ist das erste Verhältnis der Umwelt zu uns.

Nun kommt es aber auch vor, dass Dinge und Menchen sich uns verweigern. Da ist z.B. ein Mensch, den wir mögen, wir wollen mit ihm sprechen, aber er mag uns nicht, er lässt uns links liegen, er verweigert sich uns. Oder man bekommt ein Essen, das man nicht mag, oder in der Familie oder Schule oder im Beruf findet man keine Anerkennung: Alles Beispiele für den verweigernden Charakter von Erlebnissen. Dies ist das zweite Verhältnis der Umwelt zu uns, und das ist ein negatives, weil es uns wehtut oder unangenehm ist.

Noch negativer ist die dritte Weise, in der Dinge an uns herantreten: Wir wollen Menschen und Dinge, die wir haben oder lieben, festhalten, aber wir werden beraubt; oder liebe Menschen sterben uns; uns wird die Ehre abgeschnitten usw. Auf dem physischen, auf dem seelischen, auf dem geistigen Gebiet werden uns Dinge entrissen. Dieses Entreißen dessen, was wir zu besitzen glauben, ist ein drittes Verhältnis der Umwelt zu uns, und zwar ein noch negativeres.

Aber es gibt natürlich auch positive Verhältnisse der Umwelt zu uns. Über das Gewähren brauchen wir nicht viel zu sagen. Darunter wird natürlich verstanden, wenn uns Menschen und Dinge so begegnen, wie wir sie gerne wünschen, wie es uns Freude machte oder beglückt. Das ist also das vierte Verhältnis der Umwelt zum Ich.

Und unter dem fünften Verhältnis, dem Ertragen, wird verstanden, dass unsere eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten oder gelegentliche Entgleisungen von denen, mit denen wir zu tun haben, ruhiger hingenommen oder ertragen werden, wenn sie also nicht immer wieder kritisieren oder einen peinlich zurechtweisen oder sich von einem zurückziehen, so dass man bald allein dasteht. So ist also auch das ertragende Verhältnis der Umwelt zum Ich positiv, wie jeder, der etwas auf sich achtet, schon beobachtet haben wird.

Diese fünf Verhaltensweisen der Welt zu uns begegnen uns ständig in der Vielfalt der Erlebnisse. Daher ergibt sich die Frage: Was ist zu tun, dass die wohltuenden Verhältnisse: Gewähren, Ertragen zunehmen und die negativen Verhältnisse: Verlangen, Verweigern, Entreißen abnehmen?

Wir fassen im allgemeinen Leben und Welt als ein Ganzes, Großes auf und meinen, Leben und Welt seien der Ausgangspunkt, die Grundlage für unser Dasein. In Wirklichkeit ist in jedem Augenblick Bewusstsein eines Ich in Begegnung mit ewas Begegnendem. Das tut wohl und wehe, und darauf reagieren wir. Diese Kette der Erlebnisse wird eingetragen in den Geist, in das Gedächtnis, und die Summe dieser Eintragungen nennen wir Leben. Wenn zwanzig Menschen "Leben" sagen, versteht jeder doch nur die Summe seiner Erlebnisse. Und wenn jemand "Welt", dann meint er auch nur das, was er aus seinen Außenerlebnissen summiert hat. was er sich aus den einzelnen Erlebnissen als Seinsvorstellung konstruiert hat. "Welt" ist das Ergebnis unserer Erlebnisse, und "Leben" ist das Ergebnis unserer Erlebnisse. Wenn ein alter Mensch sagt: Ich habe ein gutes Leben gehabt, dann meint er damit, dass er den Eindruck hat, in seinen Einzelerlebnissen insgesamt viel Gewähren und Ertragen erlebt zu haben. Jedes einzelne Erlebnis hat seinen Charakter des Verlangens, Verweigerns, Entreißens und Gewährens und Ertragens. Und je nach diesem Charakter tut es uns wohl oder weh.

Was ist nun zu tun, dass uns vorwiegend die zwei guten Qualitäten des Erlebens (Gewähren und Ertragen) begegnen und dass die schlechten (Verweigern, Entreißen) sich mindern? Der Buddha gibt die Antwort in der Karmalehre. Er sagt, dass sein Erwachtsein u.a. in einer universalen Erweiterung seines Bewusstseins und damit seines Einblicks und seiner Erfahrung besteht. Er sagt, dass er sieht, wie alle Taten der Wesen nur scheinbar in die Vergangenheit verschwinden, dass sie aber in Wirklichkeit Bezüge in die Existenz geschaffen haben, und diese treten früher oder später wieder an uns heran. Was jetzt an uns herantritt aus der scheinbaren Zukunft, das ist in Wirklichkeit die Wiederkehr dessen, was wir früher gewirkt haben. Einen kleinen Teil können wir selbst beobachten. Wir sagen z.B. : "Weil ich gestern dem Nachbarn freundlich begegnet bin, ist er heute auch etwas freundlicher als vorgestern." Aber wir erinnern uns nur in begrenztem Maß der Vergangenheit und können nicht voraussehen.

Die Erwachten aber sagen, wer verweigernd handelt, der hat dieses Verweigern in seine eigene Zukunft geschickt und wird irgendwann eine Begegnung verweigernden Charakters erleben. Erleben ist ja nicht anderes als Bewusstsein eines Ich in Begegnung mit Begegnendem. Der Buddha sagt: Alles Bewusstgewordene hat Bewusstwerden, Bewusstsein zur Grundlage. Bewusstsein ist die Dimension der Existenz, wie wir es im Traum noch deutlicher erfahren. Wir können träumen, dass wir mit dem Auto gegen einen Baum fahren, wir merken den Ruck, der Arm ist gebrochen, wir kommen ins Krankenhaus, haben Schmerzen - und wir werden wach, aber wo ist das Auto, das Krankenhaus? Wenn uns im Traum jemand gesagt hätte: Du träumst, das ist bloß Bewusstsein, dann hätten wir ihn ausgelacht.

Der Erwachte - und hier verstehen wir den Sinn dieser Bezeichnung - sagt: Wir können uns auf keine andere Realität stützen als auf Bewusstsein, denn das Entstehen und Vergehen von Bewusstsein, das ist Realität. aber deshalb dürfen wir doch nicht sagen, weil alles "nur" Bewusstsein" sei, sei alles nicht wirklich. Denn das eben ist die Wirklichkeit, das Bewusstwerden von Erlebnissen. Es werden wirklich Wünsche gefühlt, es wird wirklich eine Übereinstimmung oder ein Widerspruch zwischen Wünschen und Erleben gefühlt. Es wird wirklich Geistiges bewusst: Fühlen, Wollen, Denken, und es wird wirklich Stoffliches bewusst, Materie - aber es wird bewusst. Und innerhalb des bewusstgewordenen Erlebnisses geschieht auch das Handeln des Ich, und zwar immer in dieser oder jener der genannten fünf Weisen: Als Verlangen, Verweigern, Entreißen, Gewähren, Ertragen - je nach unseren Trieben, die unseren Charakter bestimmen. So formen, gestalten wir nach unseren Trieben durch unser Wirken unser Bewusstsein. So ist Bewusstsein unser Erleben, die Projektion unseres Wirkens, die Projektion unseres Charakters. Wenn das Ich z.B. öfter gewährend handelt, macht es sich selber zu einem mehr und mehr zum Gewähren Geneigten und setzt gewährende, also wohltuende Erscheinungen in die Existenz, und die treten dann wieder am Tor der Gegenwart heran.

Stellen wir uns einen Menschen vor, der vorwiegend Verweigern erlebt, wenig Gewähren erlebt, viel Entreißen, wenig Ertragen, und es wird viel von ihm verlangt. Das ist ein schweres, ein schmerzliches Leben mit viel Entbehrungen und Lasten. Ganz anders verhält es sich bei einem Menschen, der vorwiegend Gewähren und Ertragen erlebt. Dieses unterschiedliche Erleben ist jeweils die Folge von entsprechenden früheren Verhalten aus den derzeitigen Charaktereigenschaften und Ansichten über richtiges und falsches Verhalten. Entsprechend unserem Sein erleben wir, und von daher verstehen wir jene "Himmel" und "Hölle" genannten Bereiche, von denen in allen Religionen die Rede ist.