Eine kleine Analyse der Grundsituation des Menschen, nicht nur in der heutigen Zeit.

 

 

Um unser Leben erkennen zu können, müssen wir zunächst einmal zurücktreten. Wir müssen all unser Gedächtnis und Denken, all unser Vemeinen und Glauben weitgehend entlassen, müssen zu Stille kommen, um von da aus wie zum ersten Male neu und vollständig zu entdecken, was "Leben" ist.

Wenn ich soweit zurücktrete von Lärm und Vielfalt, von Erinnerung an Vergangenes, von Gedanken an die Zukunft, dann bemerke ich unzweifelhaft: "Es besteht der Eindruck, dass etwas sei. Es ist nicht Leere. Es ist nicht nichts, sondern es ist Wahrnehmung. Wahrnehmung von etwas."

Diese Feststellung ist so einfach wie fundamental. Wahrnehmung ist also das erste, das vom Rande des Nichts aus als Nicht-mehr-Nichts bemerkt wird, erkannt wird. Wahrnehmung von etwas. Im Erleben nur, im Erlebnis, und das heißt Wahrnehmen, trifft uns das "Schicksal". Wahrnehmung ist der Bereich, in welchem erlebt und erlitten wird.

Was wird wahrgenommen? Was liefert die Wahrnehmung?

1. ein "Ich"

2. in Begegnung mit etwas Begegnendem,

3. welche Begegnung bei dem Ich ein Gefühl von Wohl oder Wehe oder weder merkliches Wohl noch merkliches Wehe auslöst,

4. worauf das "Ich" entsprechend reagiert.

Das dem jeweiligen Ich jeweils Begegnende, mit dem das Ich sich von Augenblick zu Augenblick auseinanderzusetzen hat, kann, wie jeder weiß, der sich selbst beobachtet, alles mögliche sein, Freunde und Feinde, Verwandte und Fremde, Tiere, Pflanzen, Gegenstände, ferner Aufgaben, wie der zu schreibende Brief, aber auch eigenen Gedanken, Gefühle, Gemütsbewegungen, der eigenen Körper usw. Das Begegnende kommt scheinbar von vorn, von der "Zukunft" an das Ich heran, wird angenehm oder unangenehm oder als keines von beiden empfunden. Das Ich nimmt dazu Stellung, reagiert darauf, und schon wird das Begegnende von einem nächsten Begegnendem in die "Vergangenheit" geschoben. Die Begegnung selbst ist immer Gegenwart. Das also ist die Vierer-Struktur eines jeden Erlebnisses. Und so wird eine Begegnung nach der anderen erlebt.

Die Griechen gingen von dem "Atom" aus, das sie für den kleinsten Baustein der sogenannten "Materie" hielten, und sie hofften, durch die ganaue Kenntnis des Atoms und seiner Gesetzlichkeit die ganze Welt verstehen und durchschauen zu können.

Der Buddha dagegen hat uns ein anderes "Atom" in den Blick gerückt, jene kleinste Erlebenseinheit, jene geistige Viererstruktur als das "existentielle Atom". Aber welch ein Unterschied liegt zwischen diesen beiden Strukturen! Das existentielle Atom enthält und umspannt die gesamte Dynamik und Dramatik der Existenz.

Der "Raum" des "Schicksals", der "Raum", in welchem Existenz vor sich geht, Leben vor sich geht, ist nicht eine "Welt an sich", sondern ist Wahrnehmung. Wer aber fast immer nur das "Begegnende" ins Auge fasst, also nach "außen", bei den tausend wahrgenommenen Dingen herumschweift, der wird Existenz schwer durchschauen, geschweige denn beherrschen.

Weiter:  "in mir" ist ein "Wille" feststellbar bzw. Dränge, Triebe oder Tendenzen. Diese laufen letztlich immer darauf hinaus, kurz- oder langfristig die gegenwärtige Situation des Ich in der Welt zu verbessern oder eine als "gut" empfundene Situation zu erhalten bzw. Situationen zu vermeiden, die als Bedrohung oder als unangenehm empfunden werden. Dies geschieht vielfältig und auch gleichzeitig. Die Dränge, Triebe des Menschen sind sehr verstrickt und auch unterschiedlich.

"Es ist aber diese seelische Bewegtheit, diese wogende Dynamik der Tendenzen die unsichtbare Motorik des Menschen, das unmerkbar im Untergrund und Hintergrund Wirkende und Bewegende,  während das äußerlich sichtbare und wahrnehmbare Tun des Menschen in seinem Aufbauen und Zerstören, in seinem Ordnen und Verwirren, in seinem Befrieden und Entzweien nur das äußerliche und mechanische Vorsichgehen und Geschobensein durch die Tendenzen, nur die Wirkung davon ist."

(Paul Debes hat diese Vorgänge in ihrer ganzer Ausführlichkeit wieder entdeckt und dargestellt in seinem Werk: Meisterung der Existenz nach der Lehre des Buddha.)

Weiter: Diese Tendenzen können grob in vier Gruppen eingeteilt werden:

1. Tendenzen nach Sinnlichkeit

"Schönes" sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken. Wenn wir einmal darauf achten, können wir bemerken, wie stark unser Leben davon bewegt ist. Nicht nur Erotik und Geschmäckigkeit sind Hauptbereiche des sinnlichen Begehrens, auch schöne Kleidung, Wohnung, erhebendes Erleben der Weite der Natur, erhebende Musik anhören usw. gehören dazu.

2. Soziale Tendenzen

Streben nach der Mitwelt, dem Mitmenschen, dem Du. Das Ich-Erlebnis ist bei dem normalen Menschen auch weitgehend abhängig von der Resonanz der Mitwesen auf ihn. Der Mensch braucht die von außen kommenden, seine Ichheit bestätigenden Erlebnisse. Er sucht den Nächsten auf, er möchte Freunde haben und benimmt sich daher möglichst freundlich, er möchte beliebt und geliebt sein. Kann einer wegen seines Wesens seinen Mitmenschen keinerlei Anerkennung entlocken, so greift er unter Umständen zum Streit, weil ihm der immer noch lieber ist als die Kälte der Einsamkeit. Aber es gibt auch Menschen, die ihre schönste Ich-Bestätigung darin finden, wenn es ihnen gelingt, des Nächsten Wohl und Freude auf allen Gebieten zu fördern.

3. Moralische Tendenzen

Wer andere am Wohl hindert oder gefährdet, gilt als unmoralisch. Gerechtigkeit, Gewähren usw. gilt als moralisch gut. In dieser Welt der Begegnung besteht die Möglichkeit der sanften Begegnung und es besteht die Möglichkeit der harten Begegnung. Die Forderung der Wesen an sich selbst sind von unterschiedlichem Niveau: Mancher will dem anderen nicht weniger und nicht mehr zukommen lassen, als ihm gebührt. Er will niemanden übervorteilen, aber er geht bei Wohltat und Wehtat nach dem Prinzip: "Wie du mir, so ich dir." Der Hochherzige geht darüber hinaus. Sein Bedürfnis ist, zu geben, unabhängig davon, ob er empfängt. Er fragt weniger oder gar nicht nach Wert oder Verdienst des anderen, sondern achtet immer darauf, "edel zu sein, hilfreich und gut".

4. Intellektuelle Tendenzen

Tendenzen nach Orientierung, Information, Wissenschaft. Es besteht das dringende Bedürfnis nach Orientierung, um die Wege des Angenehmen und Unangenehmen kennenzulernen, um die einen zu gehen, die anderen zu meiden, und sich so mit möglichst wenig Leid durchs Dasein zu bringen. Diese Tendenzen sind auch sehr vielschichtig. Sie reichen von platter Neugier zum Wissensdrang, z.B. dem Interesse für wirtschaftliche, physikalische, geologische, psychologische, soziologische, kunsthistorische, philosophische und andere Probleme.

 

Die Antwort der Tendenzen auf die Erlebnisse mit der Umwelt ist Gefühl. Die große Mannigfaltigkeit der Wohl- und Wehgefühle in grob und fein ist bedingt durch die große Mannigfaltigkeit der Tendenzen. In einer friedlichen Umwelt und mit uns im Reinen fühlen wir mit einem alten Gedicht:

Ich bin und weiß nicht wer.

Ich komm' und weiß nicht woher.

Ich geh', ich weiß nicht wohin.

Mich wundert, dass ich so fröhlich bin!

Am entgegengesetzten Ende der Skala steht eine Umwelt, in der wir von kriegerischen Handlungen, Hungersnot, Krankheiten usw. unmittelbar betroffen und starkem direktem Leid ausgesetzt sind. Dadurch entstehen Gefühle großen Entsetzens.

Die dritte Möglichkeit, wenn den Tendenzen weder entsprochen noch zuwidergehandelt wird, ist das Weder-Weh-noch-Wohl-Gefühl.

Diese wenigen Hinweise erinnern uns an die fast endlose Mannigfaltigkeit unserer Gefühle in Wohl und Wehe. Die Gefühle geben unserem Leben Stimmung und Klang, Farbe und Duft, durch sie erleben wir unser Leben als licht oder dunkel, als erwärmend oder erkältend, als Wohllaut oder Dissonanz.

Dieser große Bedürfniskomplex, diese ganze Dynamik erzwingt wiederum geistige, seelische und körperliche Aktivität.

Aus dieser Aktivität entstehen neue Situationen von Ich in der Umwelt, neue Gefühle. So entsteht aber auch immer wieder umfassenderes Begreifen:

Durch Erfahrung und Belehrung kommt schließlich die Anschauung zustande, jener zweite Faktor, der in Verbindung mit dem dumpfen Wollen der Tendenzen den Willen des Menschen bildet. Mit den Tendenzen betritt der Mensch diese Welt (Karma). Die Tendenzen bestimmen sein Interesse und seine Verletzbarkeit. Das tendenzbedingte Interesse erfährt die ihm entsprechenden Erlebnisse und beginnt so jenen Schatz an Erfahrung und Belehrung anzusammeln, der dann als Gedächtnis oder Gewissen in der Anschauung zur Verfügung steht. Nicht also werden in wahllosen Assoziationen alle Erlebnisse miteinander verknüpft, sondern die gesamten Tendenzen des Menschen, die zusammen seine "Persönlichkeit" ausmachen, seinen Charakter bilden, wählen je einzeln aus der Kette der Erlebnisse das ihnen positiv oder negativ Entsprechende heraus. So entsteht im Laufe der Zeit Kenntnis, Wissen und Anschauung des Menschen immer in einem bestimmten Verhältnis zu der von seinen Tendenzen geprägten Persönlichkeit. Aber dieses Verhältnis schließt nicht aus, dass die Anschauung, obwohl sie anfänglich ganz von den Tendenzen geformt wurde, durch ihre Fähigkeit zur "Vernunft" bald zu einer Instanz über den Tendenzen werden kann.


In der Lehre des Erwachten ist das wichtigste Anliegen: Vom Leiden zum Heil zu kommen. Als Ursache des Leidens nennt der Erwachte nicht Schuld oder Sünde oder Ungehorsam, sondern Nichtwissen. Nach vielen Äußerungen des Erwachten gibt es im Leben und im Dasein die Möglichkeit, Leiden zu vermeiden, Wohl zu gewinnen, Glück zu gewinnen und Frieden zu gewinnen, und dies in immer höheren Graden bis zum vollendeten Heile. Und es gibt zu diesem Ziel auch wirkliche gangbare Wege. Alle Wesen sehnen sich nach Geborgenheit und nach der Sicherheit im Heil, aber weil sie die Wege nicht kennen, darum können sie das Ziel nicht erreichen.

So kommt durch Nichtwissen eine falsche Auffassung, eine falsche Anschauung von der heilen Situation und von den Wegen dahin auf. Darum sagt der Erwachte:

"Nichts kenne ich, ihr Mönche, das in solchem Maß Leiden mit sich bringt wie die falsche Anschauung."

Und er ergänzt es positiv:

"Nichts kenne ich, ihr Mönche, das in solchem Maße Wohl mit sich bringt wie die rechte Anschauung." (Anguttara Nikaya I,3)

Hier nennt der Buddha also auch die positive Ursache für die positive Wirkung: Durch Wissen zum Heil. Und damit ergeben sich bereits die vier Zentralbegriffe der Lehre des Erwachten: Nichtwissen ist die Ursache des Leidens, und Wissen - ausgehend von "rechter Anschauung" führt zum Heil.

Und der Erwachte sagt auch ganz eindeutig, dass der Wahrheitssucher, nach seiner Anleitung vorgehend, selber erfahren, selber sehen werde. Die Quelle des Wissens ist also die lebendige Begegnung mit der Wirklichkeit, die eigene unmittelbare Erfahrung.

Die Eigenschaften eines Wesens, die sein gesamtes Tun und Lassen bestimmen und damit sein Schicksal und sein Lebensgefühl, entstehen allein aus seiner Anschauung, aus seiner Idee, seiner Vorstellung davon, was für ihn gut und förderlich sei oder schlecht, schädlich und schmerzlich. Ist diese Anschauung falsch, so wird das Wesen in Leiden und Elend geraten. Ist diese Anschauung aber richtig, d.h. entspricht seine Auffassung von den ins Hellere, Schönere, Größere führenden Verhaltensweisen auch der Wirklichkeit, dann gelangt es auch zu hellerem Dasein.