|
Sind die Lehrreden authentisch? Die Frage nach der "unzweifelhaften Authentizität der Reden" ist heute auf keinen Fall mehr sicher zu beantworten, weil wir eben "nicht dabei waren" und es auch keine vertrauenswürdigen Augen- und Ohrenzeugen mehr gibt.
|
Es kann jetzt nur noch um Prüfen und Vermeinen gehen, und da bestimmen eben der Grad der Verständnistiefe und der Grad der Korrektheit der Person das Urteil. Darüber hinaus geht es noch um eine äußerliche Voraussetzung: die Kenntnis des Pali, der Sprache, in der die Lehrreden überliefert sind. Da es sich nun aber bei dieser Lehre nicht um sinnlich wahrnehmbare Gegenstände des Lebens und der äußeren Welt handelt, die jeder Mensch kennt und sich bei dem betreffenden Paliwort dann auch vorstellen kann, sondern ganz umgekehrt um die besonders dem westlichen nach außen gewandten Menschen am wenigsten bekannten seelischen Regungen und die daraus hervorgehenden Emotionen, Motivationen usw., so gehört zum Pali-Verständnis auch die erwähnte Verständnistiefe gerade für die seelischen Dinge, die der Erwachte und seine Mönche kannten und darum beschreiben. Diese Notwendigkeit wird im Westen kaum gesehen, geschweige erfüllt, und daher kommen sehr große Differenzen der abendländischen Übersetzer. Die geradezu entgegengesetzte Ausrichtung des Geistes zeigt sich allein schon in der einen Tatsache, dass bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der östlichen Welt das Verhältnis derer, die um die endlos fortgesetzte Wiedergeburt wussten, zu denen, die sich nur die Einmaligkeit des Lebens vorstellten, geradezu umgekehrt war als seit Jahrhunderten im Abendland. Allein von daher kann ein abendländischer Leser oder Übersetzer der Reden des Buddha die überlieferten Aussagen über aneinandergereihte Lebensfolgen leicht als unecht ansehen, oder sie müssen ihn als eine Besonderheit des indischen Volkes anmuten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen muss. Wir westlichen Menschen sind das Produkt unserer westlichen Erziehung, u.a. des Einflusses der Naturwissenschaft, die seit mehreren Jahrhunderten ausschließlich nur den Körper des Menschen untersucht, sein Seelisches gar nicht kennt und darum alle seelischen Phänomene als vom Körper erzeugt auffasst, so dass diese auch mit dem Körper untergehen müssen. Da man in Indien von jeher von ununterbrochenen Körperwechseln und vom Auf- und Abkreisen in den Existenzmöglichkeiten überzeugt war und ein Ende dieser unberechenbaren Wanderung suchte, so konnte der Erwachte von diesen Grundgedanken ausgehen, und darum brauchte in den Reden für die dortigen Hörer vieles nicht ausgedrückt zu werden, was aber dem westlichen Menschen deutlich gesagt und begründet werden muss. Darum bedarf die Lehre des Buddha im Westen einer gründlichen Erläuterung. Hinzu kommt, dass die Lehrreden in keiner Weise in eine Reihenfolge gebracht sind, durch die eine wenigstens annähernd schrittweise und systematische Einführung in das ganze Lehrgebäude, also in die Gesetzmäßigkeiten der Existenz, zustande gekommen wäre. Daraus würde sich immerhin eine wesentliche Erleichterung ergeben. Nach mehreren Jahrhunderten mündlicher Überlieferung der ungezählten Reden blieb den Ordnern kaum etwas anderes übrig, als zunächst die gewichtigen Reden, die sicher und lückenlos im Gedächtnis bewahrt worden waren, zu zentralen Sammlungen zu ordnen ("Mittlere Sammlung" und "Längere Sammlung"). Diese zwei Sammlungen mit insgesamt knapp zweihundert Reden bilden das Herzstück der gesamten Überlieferung. Alles Weitere, obwohl es insgesamt ein Mehrfaches des Herzstücks ausmacht, sind fast ausschließlich kleinere Reden, weitgehend auch nur Redeteile, Erinnerungsfetzen. Davon hat man die Hauptmasse geordnet zur "Gruppierten Sammlung" nach im Ganzen 56 Themen mit je 10-200 Reden (Samyutta Nikaya). Da aber nicht die Hälfte dieser Texte sich danach ordnen ließ, so hat man den größeren Restteil nur noch ordnen können nach Texten, die nur ein Thema behandeln usw. bis zu elf Themen. Diese wurden zusammengefasst als der Anguttara Nikaya = Angereihte Sammlung. Außerdem gibt es noch die sogenannte "Kürzere Sammlung", die noch bruchstückhafter ist. Aber durch diese Einordnung ist natürlich alle systematische Reihenfolge, wie sie den Belehrungen des Erwachten zugrunde lag, völlig verloren gegangen. In der Rede 118 der Mittleren Sammlung zeigt sich, dass der Erwachte und die Älteren und Erfahreneren der Mönche die Jüngeren nach einer gewissen Reihenfolge und Systematik immer tiefer in die Lehre einführten. Davon kann bei diesen Sammlungen keine Rede mehr sein. Besonders bei der Mittleren Sammlung ist gerade die erste der Reden eine der allertiefsten und schwierigsten. Ebenso ist die 1. Rede der "Längeren Sammlung" eine sehr große und umfassende Bilanz über das gesamte damalige weltanschauliche Denken in Indien und seine Herkunft. Die Ordner der gesamten Überlieferungsmasse zu jenen fünf uns heute bekannten "Nikayas" mögen einen Plan und eine gewisse Absicht mit der uns nun vorliegenden Anordnung verfolgt haben. Auffallend ist jedenfalls, dass in mehreren jener Sammlungen die erste Aussage den Blendungscharakter unserer Wahrnehmung deutlich herausstellt. Das zeigt sich am deutlichsten in der 1. Rede der "Mittleren Sammlung". Ebenso aber in den ersten Versen des Suttanipato (zu finden in der "Kürzeren Sammlung"), nach welchen der wissende Mönch bei allen wahrgenommenen Dingen sich immer wieder vor Augen führt: "Dies Ganze gilt nicht wirklich." Noch deutlicher tritt es zutage im Dhammapada, in dem die ersten Verse sagen: "Vom Geist gehn die Dinge aus, bestehn aus Geist, sind geistgeformt." Indirekt verhält es sich ebenso mit der ersten Rede der "Längeren Sammlung", die eine große Bilanz des gesamten indischen Denkens darstellt, wobei der Erwachte stets das Urteil ausspricht, dass alle Denker nur im Anstreben der gewünschten Empfindung so denken, also die Blendung weiterhin pflegen, dass aber er, der Erhabene, über all dieses endgültig ausgestiegen ist. Der Verlust der Art und Weise, wie der Erwachte und seine großen Jünger in Seminaren die neuen Mönche schrittweise von Stufe zu Stufe in das Verständnis der Existenz einführten, ist zu bedauern. Denn die allermeisten Leser der Reden, die sich ja nur neben ihrem Beruf und Familienleben damit beschäftigen können, haben kaum die Möglichkeit, sich so da hindurch zu finden, dass sie für sich die praktischen Konsequenzen ziehen können. Es bleibt in den meisten Fällen Bruchstückarbeit. Bei meinem Bemühen um sachliche Prüfung znächst der Echtheit, d.h. der eindeutigen Gleichartigkeit des Überlieferungsgutes in nun über sechzigjährigem Umgang, gewann ich erst nach etwa zwanzig Jahren allmählich einen Durchblick und Überblick, der sich inzwischen immer mehr erweiterte und vertiefte und auf diesem Weg immer eindeutiger zu dem sehr positiven Eindruck führte, dass ich hier einer eindeutig einheitlichen Aussage gegenüberstehe. Mir drängt sich dabei das Bild von einem Erdatlas auf: So wie bei einem solchen Hunderte von Karten mit den unterschiedlichen Landschaftsausschnitten und in unterschiedlichsten Maßstäben sich doch gegenseitig ergänzen und bestätigen und darum letztlich eben doch ein eindeutiges klares Bild von der Beschaffenheit der Erdoberfläche in ihren vielfältigen Strukturen, Klimata usw. liefern, so dass ein gründlicher Erforscher dieses Atlas, selbst wenn er auf einem anderen Stern wohnt, dennoch rechten Aufschluss über die Möglichkeiten des Erdendaseins gewinnt - ganz ebenso liefern die Lehrreden dem, der sich geduldig um Erschließung bemüht, insgesamt einem Atlas gleich ein deutliches, unzweifelhaftes, vielfältig sich bestätigendes Bild von der Dimension und der Struktur der Existenz wie auch von ihrer Funktion und den Möglichkeiten, zu ihrer vollständigen Beherrschung zu kommen. Aus dieser im Laufe der Jahrzehnte allmählich immer mehr herangereiften Einsicht ist bei mir allmählich eine immer größere Sicherheit im Umgang mit dieser Überlieferungsmasse gewachsen. So wie jeder praktische Mensch, der in der Landschaft irgendwo einen kleineren oder größeren Haufen von reifen Äpfeln gleicher Rasse vorfindet, dann mit Sicherheit weiß, dass irgendwo ein Apfelbaum oder mehrere Apfelbäume von dieser Rasse da sind - oder wenigstens da waren, ohne welche es eben diese Äpfel nicht geben könnte, ganz ebenso lässt die Hauptmasse der überlieferten Reden ganz eindeutig auf eine einzige Quelle dieser gesamten Aussagen schließen; sie stimmen in einer Weise überein, wie es in der Weltliteratur nicht annähernd ihresgleichen gibt. Dennoch ist diese Überlieferung natürlich nicht vollkommen, enthält sogar eine Reihe von Fehlern, aber diese sind in dem Maße, wie man in den Sinn der gesamten Masse eingedrungen ist, um so leichter zu erkennen. Denn ganz ebenso wie man bei einem Erdatlas, bei welchem mehrere Karten z.B. Paris als die Hauptstadt von Frankreich darstellen, nun eine Karte fände, auf der Paris als eine Insel im Pazifik dargestellt wird - dann ohne viel Federlesens dies als einen Fehler in jener Landkarte ansieht. . . so geht es auch mit manchen Aussagen in den Reden. Solche Mängel - stärkere und schwächere - sind in der "Mittleren Sammlung" nur vereinzelt, in der "Angereihten Sammlung" am meisten, erst recht in der "Kürzeren Sammlung". Diesem Urteil über die im Grunde vorhandene geistige Gleichartigkeit der Überlieferungsmasse möchte ich über ihren praktischen realen Gehalt noch anfügen, dass sie sich mir aus meinem langjährigen Bemühen um Vollzug der Übungen und aus den daraus hervorgegangenen inneren und äußeren Erfahrungen als eine aus tiefgründiger Erfahrung der seelischen Zusammenhänge der Existenz hervorgegangene, also erfahrungswissenschaftliche und zur praktischen Nachfolge taugliche Wegweisung über die Stufen der Heilsentwicklung erwiesen hat. Die Erläuterungen des Buddha über die seelisch-körperlichen Zusammenhänge führen uns Wirklichkeiten vor Augen, die wir dann auch bei uns selber als wirklich erfahrbar feststellen können. Dann erst erwächst allmählich die Einsicht, dass die Lehre des Buddha als die Grundwissenschaft vom Leben und seinen Gesetzen angesehen werden muss, die im Westen trotz der Selbstbezeichnungen wie "Anthropologie", "Biologie" und auch "Psychologie" nicht vorliegt. Quelle: Paul Debes beantwortet Fragen zu buddhistischer Anschauung und Lebensführung (aus einem Brief, gekürzt).Einer der ersten europäischen Pioniere auf dem Gebiet der Pali-Forschung war T.W. Rhys-Davids (1843-1922). Er war Verwaltungsbeamter in Sri Lanka und verbrachte seine freie Zeit damit, Pali zu lernen. Was er entdeckte, erstaunte ihn so sehr, dass er 1881 die Pali Text Society gründete, mit der Absicht, den gesamten Kanon der Pali-Schriften ins Englische übersetzen zu lassen. Dies geschah auch so. Der Erstübersetzer der Reden der Mittleren Sammlung und der Längeren Sammlung des Buddha ins Deutsche war Karl Eugen Neumann. Das war eine enorme Pioniertat und 80 Jahre lang die einzige vollständige Übersetzung ins Deutsche. Neumann stand darüber hinaus dem Erwachten weltanschaulich näher als manche Indologen, wie z.B. Oldenberg oder Franke, die auch übersetzten. Neumanns Übersetzung kommt in Wortlaut und Stil dem originalen Wortfluss des Pali am nächsten. Rudolf Otto Franke hat ebenfalls die Längere Sammlung übersetzt und dabei Karl Eugen Neumann wegen philologischer Ungenauigkeiten kritisiert. Auch Paul Dahlke hat Teile der Mittleren Sammlung und der Längeren Sammlung übersetzt. Kurt Schmidt hat später eine verkürzte Form der Mittleren Sammlung herausgebracht und erst Kay Zumwinkel hat die Mittlere Sammlung neu überarbeitet herausgebracht. Die Gruppierte Sammlung wurde von drei verschiedenen Übersetzern quasi als Gemeinschaftswerk über Jahrzehnte hinweg vollständig ins Deutsche übertragen: Wilhelm Geiger, Nyanaponika Mahathera und Hellmuth Hecker. Die Angereihte Sammlung hat Nyanatiloka Mahathera vollständig ins Deutsche übersetzt. Von der Kürzeren Sammlung wurden einzelne von den 15 Abschnitten komplett von Karl Eugen Neumann, Nyanatiloka Mahathera, Karl Seidenstücker, Julius Dutoit, Hellmuth Hecker, Fritz Schäfer und anderen übersetzt. Übersetzungen aus dem Pali-Kanon in Buchform aus verschiedenen Stücken gibt es darüber hinaus von Hermann Oldenberg, Kurt Schmidt, Paul Dahlke, Klaus Mylius. Diese kann man zum Vergleich heranziehen. Zum Selbststudium des Pali sind zu empfehlen: Kleines Lesewörterbuch zur Palisprache, von Hellmuth Hecker. Kleine systematische Pali-Grammatik, von Nyanatiloka Mahathera. Pali. Eine Einführung in die Sprache des Buddha, von Heinz Reißmüller. Pali. Buddhas Sprache, von Kurt Schmidt. Siebzig Schlüsselbegriffe des Pali-Buddhismus, von Hans Wolfgang Schumann.
|