"Was ein Meister den Jüngern aus Liebe und Teilnahme, von Mitleid bewogen, schuldet, das habt ihr von mir empfangen. Da laden Bäume ein, leere Klausen. Wirket Schauung (jhana), auf das ihr nicht lässig werdet, später nicht Reue empfindet: das haltet als unser Gebot."

 

Diese Mahnung spricht der Erwachte in den Lehrreden immer wieder aus und sie wurde zu seinen Lebzeiten von Hunderten von Mönchen und Nonnen befolgt und ihr Ziel verwirklicht.

In vielen Lehrreden macht der Buddha darauf aufmerksam, dass er bei sich selber vor seiner Erwachung erfahren habe und dass es sich auch bei allen Menschen so verhalte, dass man, solange man noch nicht jenes überweltliche Wohl der Entrückungen, Schauungen (jhana) erlebt und erfahren habe, so lange auch noch gefährdet sei durch das Begehren, dass aber der Heilsgänger, sobald er das Wohl der Entrückungen erlebt und erfahren habe, endlich und endgültig von dem weltlichen Begehren sich abwende, denn dann könnten alle sinnlichen Dinge, auch wenn sie sich in der nach weltlichen Begriffen "schönsten und verlockendsten Weise" gäben, keinerlei Verlockungen und Reizung mehr auslösen: das Erlebnis des seligen, überweltlichen Wohles ist so überwältigend, dass alles Sinnliche dagegen verblasst und gar als leidvoll empfunden wird.

Hier sei erwähnt, dass die Schauungspraxis als Inbegriff der höheren Religiosität und Mystik auch in anderen Religionen gepflegt wurde, als Unio mystica im Christentum, ebenso im Sufismus westlich und im Taoismus östlich von Indien. Im Buddhismus wurde insbesondere im Zen-Buddhismus das Gebot "Wirket Schauung" durch die Jahrhunderte bewahrt. Die meisten nichtbuddhistischen Mystiker deuten die Entrückungen als von Gott geschickte Bestätigung ihres Gottglaubens.

Die weltlosen Entrückungen, Schauungen sind zur Erreichung des Nirvana geradezu unerlässlich. Es ist der mit der Schauung erlebte Fortfall eines erlebten Ich in einer erlebten Welt und aller damit zusammenhängenden erlebten Veränderlichkeiten samt Vergänglichkeit und Tod, welcher dem Erleber über jene entscheidende Hürde hilft, ohne deren Überwindung das Heil unerreichbar bleibt.

Es wird erlebt und erfahren, dass mit dem Fortfall von Ich und Welt in der Entrückung nur Vergänglichkeit und Tod, Wehe und Angst vollkommen fortfallen und dass mit dem Fortfall der Erscheinungen und Ereignisse nur die Unstetigkeit mit Andrang und Weggang, nur der Strom der Zeit fortfallen und dass damit eine tiefe, uferlose, selige Ruhe eintritt.

Die erste Schauung:

Paul Debes vergleicht die erste Entrückung mit jemandem, der aus einem lauten Maschinensaal mit ohrenbetäubendem Lärm der Dampfhämmer in eine Schreibstube kommt. Die erste Entrückung ist eine wohltuende Ruhe. Dieser Zustand wird beherrscht von einem stillen Sinnen und Erwägen, welches vor allem die Entlastung begrüßt und jetzt unabgelenkt in aller Tiefe die Wahrheit betrachten kann.

"Der normale Mensch kennt seit seiner Geburt kaum eine andere als die sinnliche Wahrnehmung, sein Geist wird überwiegend beschäftigt mit gesehenen Formen, gehörten Tönen, gerochenen Düften, geschmeckten Säften, getasteten Körpern. Alle diese fünf Wahrnehmungsweisen bringen immer das Erlebnis einer dreidimensionalen Welt in Form und Raum mit sich. Der so zustande gekommene Geist, die so zustande gekommene Anschauung muss darum die raum-zeitliche Welt, den Kosmos, als das Ganze, das Äußerste und Größte auffassen, als dasjenige, innerhalb welchem alles ist, was ist, als das Universum... alles, was ist, das scheint ihm nur durch Stoff und Raum bedingt, auch das Bewusstsein und damit das Zeitphänomen, denn da das Bewusstsein die "im Gedächtnis" bewahrten "vergangenen" Erlebnisse mit den "gegenwärtigen" vergleichen kann, so entsteht der Eindruck von Zeit."

So findet für den normalen Menschen das Leben in seiner Gesamtheit als dinglich-räumlich-zeitliche Ausbreitung statt, ist daran gebunden, ist dessen Ergebnis. Diese Auffassung wird seine Vernunft und hier zeigt sich auch die Grenze der Vernunft. Indem nun jenes völlig andere erlebt wird, erfahren wird: eine in vollkommener Abgeschiedenheit von Welt und Weltlichkeit geborene stille Seligkeit, ja selige Ruhe - indem also Leben ohne Ich und Welt wahrgenommen wird, erlebt wird, erfahren wird, vernommen wird, da tut sich zwangsläufig der Widerspruch auf zu aller bisherigen Erfahrung und aller aus dieser Erfahrung hervorgegangenen "Vernunft" und "Lebensauffassung".

Mir dem Erlebnis der weltlosen Entrückung erfährt der Mensch: Das gesamte Ich-Umwelt-Erlebnis ist eine gewaltige Imagination, ist ein mächtiges Blendwerk und eine Verblendung. Alles, was erscheint, besteht aus nichts anderem als aus seinem Erscheinen, sein Sein ist Erscheinen. Der gesamte durch die beschränkte Wahrnehmungsweise erlebte und durch das Erleben im Denken aufgebaute, ein-gebildete "Kosmos" ist nicht Grundlage des Lebens, nicht das Sein selber. Sondern es gibt ein vollständig dingloses, raumloses, zeitloses, ichloses, unkosmisches Sein ohne Gefangenschaft, ohne Fesselung, ohne Gerissensein, ohne Wandelbarkeit und ohne Tod.

Die zweite Schauung:

In dem Gleichnis, das der Erwachte öfter für die zweite Entrückung gibt, heißt es, dass da ein spiegelklarer See mit kühlem, labenden Wasser ist, der keinerlei Zuflüsse von außen (die Sinneseindrücke schweigen) und auch keinen Regen von oben bekommt (jede Geistestätigkeit schweigt vollkommen), sondern nur von einer unterirdischen kühlen, reinen Quelle gespeist wird. Das bedeutet, dass der Grundzustand, die reinere Herzensverfassung eines solchen Menschen, aus sich selbst zu diesem seligen Frieden fähig ist, ganz ohne sinnliche wie auch geistige Anregungen und Berührungen.

Aus der Zuwendung zu allen Lebewesen, aus Wohlwollen, Schonung und Fürsorge in seinem Gemüt hat er eine andere Feudenquelle entwickelt und zu einer immer größeren Wärme und Glut und Helligkeit gebracht und ist so von dem sinnlich-körperlichen Wohl immer mehr zu dem Wohl des Gemüts "umgestiegen" mit dem Erfolg, dass er durch die Entwicklung von innerem Glück unabhängig von der Welt geworden ist. Man kann sich unbedenklich dem Wohl überlassen und sich im Jubel baden. Hier endet auch die Trübsinnsfähigkeit, die in der ersten Entrückung beim Erinnern und Vergleichen noch denkbar war.

Auf diesem Wege ist der belehrte Heilsgänger nun schon viele Male in die erste und in die noch stillere, seligere, da auch vom Denken freie zweite Entrückung eingetreten und hat damit ein Wohl erfahren, für das alle Maßstäbe, die man aus der sinnlichen Wahrnehmung entnehmen kann, gar nicht ausreichen. Aus diesen Erfahrungen ist er nun endgültig "umgestiegen" von aller weltlichen Wohlsuche fort zu der inneren eigenständigen Seligkeit.

Die dritte Schauung:

In ihr kommt das Jubelwohl der beiden vorangehenden Entrückungen zur Ruhe. Da der Jubel über die fünf Sinne und über das Denken (Erwägen und Sinnen) hinaufriss, braucht man jetzt nichts Emporreißendes mehr, man ist nun "oben". Es ist ein großes geistiges Wachstum des Heilsgängers eingetreten. Er ist von der Sinnlichkeit ganz befreit. Kein brennendes Jucken durchzieht den Körper und keine Sucht, mit den Augen nach Formen zu jagen, mit den Ohren nach Tönen usw. treibt ihn. Wir hören von solchen, die darin erfahren sind, dass sie sagen: Wenn etwas "Leben" ist, dann hat mein Leben nun angefangen. Es gibt Gleichnisse für diesen Zustand und für das Urteil der zu diesem Zustand Gelangten über ihr früheres nun überwundenes Sinnenleben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen und die von dem normalen unbelehrten Menschen als Zumutung empfunden werden: Ein Wort von Robert M. Pirsig wird hier verständlich: "Die meisten Menschen verbringen ihr ganzes Leben in Niederungen, ohne auch nur zu ahnen, dass es Höhen gibt."

Die vierte Schauung:

Um diesen höchsten Reifegrad zu beschreiben, fehlen die Worte. Er ist uns zu fern. Hier am oberen Ende der gesamten Läuterungsentwicklung herrscht jene erhabene Reinheit, die auch alle süße Seligkeit der ersten Aufstiegsstufen hinter sich und unter sich gelassen hat. Hier sind alle Vergleiche unzulänglich.

Das erste wohltuende Gefühl der dritten Schauung erweist sich als Pfad zu dem noch wohltuenderen Gefühl des Gleichmuts - und aus dieser Entrückung heraus trat der Buddha in die Erlöschung, ins Nirvana ein.


Es besteht nun die Gefahr, beim Wohl der Schauungen "hängen zu bleiben" und daran zu kleben und so den weiteren Schritt zum Nirvana hin zu übersehen. Aber in der Geschichte des Buddhismus wurde die Schauungspraxis gerade von Theravada-Seite manchmal regelrecht verdrängt, das Wort von der "großen Samadhi-Falle" erfunden. Die Mahnung des Buddha ("Wirket Schauungen") wurde ignoriert. Was aber selbst ein Wesen vom überragenden Format eines Vollkommen Erwachten nicht konnte - nämlich Sinnenwohl ohne Schauungswohl überwinden zu wollen - das mutete man sich zu: natürlich ohne Erfolg.

Ein zweiter Irrweg besteht darin, dass man bei echten meditativen Erlebnissen, wenn das gewöhnliche Bewusstsein und Denken stiller wird, dem schon gern das Etikett "Schauung" aufklebt. Was bestenfalls "angrenzende Sammlung" war, wurde zur Schauung hochstilisiert. Dabei wurde wiederrum der Buddha ignoriert, der deutlich zeigt, wie Schauung das Stillstehen der Sinnenmaschine des Körpers ist, wo alle fünf Sinne zeitweise schweigen und der Übende "im inneren Bade" des selbstleuchtenden Gemütes verweilt. Trotz Sinnestätigkeit und damit Weltwahrnehmung von Schauungen zu sprechen, befriedigt zwar das Ich, widerspricht aber dem Erwachten.

(H. Hecker: Die Psychologie der Befreiung)