Vergebung heißt, dass wir vergangenes Leid loslassen und damit all den Schmerz, all den Hass, den wir mit uns herumschleppen. Durch Vergebung erweisen wir unserem Herzen die größte Ehre. Wenn wir uns irgendwo verloren haben, bringt uns Vergebung wieder zurück auf das Fundament der Liebe.

(Jack Kornfield)

 

Sich eine Welt ohne Vergebung vorzustellen ist schwierig. Ohne Vergebung wäre die Welt gleich einer Hölle. Ohne Vergebung führen wir ein Leben in Ketten, denn wir tragen ständig das Leid der Vergangenheit mit uns herum, das wir immer wieder aufkochen, ohne uns je davon losmachen zu können.

Ein Gespräch zwischen zwei ehemaligen Kriegsgefangenen:

"Hast du deinen Häschern vergeben?"

"Nein, das werde ich niemals tun!"

"Nun, dann sitzt du immer noch in ihrem Gefängnis, oder?"

Jeder von uns weiß es aus Erfahrung, dass die Stunden oder Tage, die er anderen grollt über Kränkungen, Beleidigungen, sonstige Schädigungen, für ihn eine verlorene und dunkle Zeit sind. Ja, wenn er bereits edlere, höhere Vorsätze in sich aufgebaut hatte, dann ist ihm solche Zeit peinlich, und er versucht sie abzukürzen, indem er den inneren Groll aufhebt, dem Täter verzeiht.

Vergebung ist weder schwach noch naiv.

Vergebung erfordert Mut und Klarheit. Mit Naivität hat das nichts zu tun. Denn es ist falsch, wenn Menschen denken, Vergebung heiße, einfach alles zu vergessen, ein für alle Mal. Das wäre Vergebung ohne Weisheit. Vergebung geschieht auch nicht von heute auf morgen. Echte Vergebung geht nicht einfach oberflächlich über das Geschehene hinweg. Aber wer frei, wer gesund werden will, mach sich von Hass frei, und der andere ist dankbar dafür. Die meisten Menschen sind dankbar, wenn man vergibt, was sie einem angetan haben, wenn man wieder neu anfängt. Aber auch wenn sie nicht dankbar sein sollten - es geht ja nicht um die Dankbarkeit anderer, sondern darum, dass wir die Dunkelheit in unserem Herzen erhellen, denn das führt zum Wohl.

Natürlich ist es von zentraler Bedeutung, dass wir uns selbst vergeben können. Denn wir haben genauso gelitten wie der andere. Wenn wir einen ehrlichen Blick auf unser Leben werfen, sehen wir, welche Sorgen und Ängste zu falschem Handeln unsererseits geführt haben. Dann können wir uns wirklich verzeihen. Wir können den Schmerz, den wir verursacht haben, voller Mitgefühl aushalten. Ohne diese Gnade uns selbst gegenüber werden wir unser Leben im Exil verbringen.

Alan Wallace, ein westlicher Lehrer des tibetischen Buddhismus, hat diesen Gedanken so formuliert:

Sie müssen sich das etwa so vorstellen: Sie gehen die Straße entlang und sind mit Lebensmitteln bepackt. Plötzlich läuft jemand frontal in Sie hinein. Sie und Ihre Einkäufe stürzen zu Boden. Sie stehen auf, und gerade, als Sie losbrüllen wollen: "Sie Idiot, können Sie nicht aufpassen? Sind Sie denn blind?", sehen Sie dass der andere wirklich blind ist. Auch er sitzt inmitten seiner zerbrochenen Eier und zerquetschten Tomaten. In der nächsten Sekunde verfliegt Ihr Ärger und macht einer liebevollen Fürsorge Platz: "Ist Ihnen etwas passiert? Kann ich Ihnen helfen?" Ebendas ist unsere Situation. Wenn uns klar wird, dass die Quelle aller Disharmonie und allen Unglücks in der Welt die Unwissenheit ist, gelingt es uns, das Tor zu Weisheit und Mitgefühl aurzustoßen.

Der zweite Punkt ist, Vergebung von anderen zu erbitten. Deshalb meditieren wir gelegentlich darüber, wie wir andere verletzt haben. Man kann folgendes Bekenntnis sprechen: In vielfacher Weise habe ich andere verletzt, ihnen geschadet, sie verraten oder sie verlassen, ihnen wissentlich oder unwissentlich Leid zugefügt, aus meinem eigenen Schmerz, meiner Angst, meiner Wut und meiner Verwirrung heraus. Spüren Sie ihren eigenen Schmerz, Ihr Bedauern und sagen Sie zu jedem Menschen, der in Ihrem Geist erscheint: "Ich bitte um deine Vergebung. Ich bitte um deine Vergebung."

Der dritte Punkt ist die Vergebung für all jene, die uns geschadet oder uns verletzt haben. Auch hier meditieren wir darüber, indem wir zu uns selbst sagen: Ich erinnere mich an die vielfachen Weisen, in denen andere mich verletzt oder mir geschadet haben, ob nun aus Angst, Schmerz, Verwirrung oder Ärger. Ich habe diesen Schmerz schon viel zu lange in meinem Herzen getragen. In dem Maße, in dem ich selbst dazu bereit bin, schenke ich euch Vergebung. All jenen, die mir geschadet haben, schenke ich meine Vergebung. Ich vergebe euch.

Wenn wir im Gedächtnis behalten, was uns einer Übles getan hat und es vielleicht gar noch zusätzlich ausmalen, dann leben wir in einer dunklen Welt in diesem und im nächsten Leben. Dann wird das unsere Welt. Was wir nicht heller machen, wird nicht heller. Jeder Gedanke baut an unseren Erlebnissen. Bauen wir eine helle Welt und sehen wir auf das Gute in dem Wissen:

Alles Sichtbare - die Welt, die wir erleben -

ist nur ein Schatten dessen,

was in der Seele wirklich vor sich geht.

(Makarios der Ägypter)

Das alles bedeutet in der Konsequenz nicht, dass der Mensch sich blind machen soll für die Eigenschaften des Nächsten, dass er nicht sehen soll, was gut und böse ist und war und wer gute und böse Eigenschaften hat, sondern dass er den Nächsten nicht nach eigensüchtigen, moralischen oder weltlich üblichen (klug, dumm, wohlhabend, arm usw.) Gesichtspunkten unterscheiden sollte. Hier hilft der vom Erwachten gegebene Gedanke, dass jeder von uns schon alles Gute und Schlechte war und wir darin gleich sind. Wir alle suchen Wohl auf den Wegen, die wir kennen.

Im Mahabharata heißt es:

Man muss jede Beleidigung, wie immer sie auch sei, verzeihen. Es ist gesagt worden, dass das Fortbestehen der Menschheit aus der Fähigkeit des Verzeihens erwächst. Verzeihen ist heilig: Es erhält die Welt in ihrem Bestand; verzeihen ist die Macht des Starken, ist Opfer und Ruhe der Seele. Verzeihen und Sanftmut sind Eigenschaften der Selbstbeherrschung, sie stellen die ewige Tugend dar.

 

Quelle teilweise: Jack Kornfield, Stille finden in einer lauten Welt.