Es wird von einem Buddhisten erwartet, anderen nicht dadurch Gewalt anzutun, dass er ihnen seine Ansichten aufzwingt. Das Prinzip, die Würde des Anderen nicht anzutasten, wird damit zu einem entscheidenden Gesichtspunkt.

Edward Conze

 

In der gesamten mündlichen und schriftlichen Überlieferung der menschheitlichen Gedanken, Einsichten, Erfahrungen und Bestrebungen nehmen die "Religionen", die Heilslehren der verschiedenen Epochen und Kulturen eine fast unvergleichbare Sonderstellung ein.

Alles sonstige Suchen und Finden, Erkennen, Wissen und Können beschäftigt sich mit den Erscheinungen unseres menschliches Lebens in unserer Welt, alles dient dem Ziel, das Leben des Menschen auf dieser Erde möglichst zu sichern, zu erhalten, zu erleichtern und durch die verschiedenen Künste zu verschönen.

Der westliche wissenschaftliche Geist der Renaissance hat dies zu einem vorläufigen Höhepunkt geführt. Wie konnte man - wie in der asiatischen Mentalität verankert - diese Welt der sinnlichen Erfahrungen als Illusion bezeichnen, da die Erkenntnisse von Bacon, da Vince, Kepler und Galilei so viele Türen aufstießen und so viele Erfolge zeitigten, die unserem Stolz schmeichelten?

Es geht nicht darum, die technologischen Erfolge des Abendlandes zu beklagen, sondern festzustellen, dass die gesamte Ideenskala des heutigen Menschen dadurch geändert wurde und in gewisser Weise verarmte. Die "Information" ersetzt nicht alles, und man muss zugeben, dass wir heute weniger als ein Mönch des Mittelalters in der Lage sind, die Intuitionen und Vorstellungen des Buddhismus nachzuempfinden, es sei denn, wir würden auf viele unserer Denkgewohnheiten verzichten.

Auf einer tieferen Ebene lässt sich sagen, dass wir denken, wir könnten Kontrolle über unsere Gefühle gewinnen, indem wir unsere Umwelt kontrollieren; wir denken, wir könnten irgendwie die Dinge dazu bringen, so zu sein, wie wir sie haben wollen. Dieser Eindruck, wir hätten von Natur aus Macht über unsere Gefühle, ist ein zentraler Aspekt der Täuschung über die Natur der Existenz. Es ist nicht schwer zu sehen, warum dieses Gefühl von Macht eine Illusion ist. Wir alle begegnen im Leben mehr Leiden und Schmerz - d.h. mehr unangenehmen Gefühlen, als wir wollen. Warum? Weil wir keine Kontrolle über den Verlauf unseres Lebens haben. Das offensichtlichste Leiden, dem wir nicht entgehen können, ist Krankheit, Alter und Tod. Die erschreckendste Art von Leiden ist die Aussicht auf eine schlechte Wiedergeburt. Und letzten Endes entzieht sich auch das unserer Kontrolle. Der Grund, warum wir die Ereignisse nicht kontrollieren können, ist die Tatsache, dass da kein "Selbst" oder "Ich" ist. Gefühle entstehen aufgrund von Ursachen und Bedingungen, nicht weil jemand dafür verantwortlich ist. Die Illusion eines Selbst gibt uns das illusorische Gefühl von Kontrolle und lässt uns angenehme Gefühle begehren. Wie würde sich die Beseitung dieser Täuschung auswirken? Stell dir für einen Moment vor, du hättest keine Kontrolle über die Gefühle in deinem Körper und Geist. Wozu wäre Begehren gut, wenn du nicht wirklich die Gefühle haben kannst, die du möchtest? Wenn es keine Kontrolle über die Gefühle gibt, bist du besser dran, wenn du dich einfach "zurücklehnst" und zuschaust, wie Gefühle entsprechend ihrer Natur kommen und gehen. Aber diese sei hier nur eine kleine Anmerkung am Rande.

Die Heilslehrer - wie der Buddha - nennen einen Zweck und ein Ziel. Zwar stellen sie jenes Ziel nicht an die Stelle unserer irdischen Ziele, aber sie sagen, dass es über das Ziel der hiesigen Lebenserhaltung und Lebenserleichterung und -verschönerung noch hinausreiche, weit hinausreiche, unermesslich hinausreiche. Sie bekennen, dass sie Einblicke in Daseinsweisen und Lebensformen gewonnen hätten, die wir mit der uns möglichen sinnlichen Wahrnehmung nicht erleben noch erfassen können.

Sie sprechen zu dem Menschen nicht darum, weil sie ihn unterhalten möchten mit den vielseitigen Berichten, erbauen mit Bildern von den himmlischen erhabenen Stätten oder erschrecken mit Bildern von den unterweltlichen Reichen der Öde, der Leere, des Entsetzens und der Qual - vielmehr sagen sie, dass uns Menschen in unserem ganzen Dasein nichts näher angehe als diese uns noch unbekannten jenseitigen Welten. Sie sähen nämlich die ganz unlösbare Verbindung des menschlichen Lebens auf Erden mit diesen verschiedenartigsten Jenseitsbereichen, den hellen und den finsteren.

Dieses ist ihrer aller gemeinsame Botschaft. Des Menschen Tod auf Erden ist nicht sein Untergang in der Vernichtung. Das Leben kann gar nicht sterben, kann nie enden, sondern setzt sich unendlich fort in mancherlei Welten mit immer wieder anderen Körpern. Darum ist der Tod auch nur Übergang und unmittelbare Fortsetzung seines Schicksals in irgendeinen der jenseitigen Lebensbereiche. Ferner sagen sie mit ihrem durchschauenden Blick, dass der Mensch schon während seines jetzigen Lebenswandels ununterbrochen an seinem jenseitigen Schicksal schmiedet. Gleichviel ob er es weiß oder nicht, ob er es will oder nicht.

Und in bemerkenswerter Übereinstimmung sagen sie: Wer seinen Bestrebungen in Familie, Beruf und Freundschaft in einer Weise nachgeht, wodurch er seine lebendigen Mitwesen nicht benachteiligt, schädigt oder gar zu Grunde richtet, sondern schont und fördert und wohltut, der baue mit dieser Gesinnung und Haltung schon in diesem Leben an den Wegen zu einem helleren Dasein, aber erst recht nach dem Verlassen des irdischen Körpers. Wer aber seine Ziele ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Wünsche seiner Nächsten verfolgt, der wird die Dinge, an denen sein Herz hing, auch drüben wieder vorfinden, aber in verderbter, entstellter, abstoßender Form oder nahe und doch ganz unerreichbar. Und er wird sich umgeben sehen von Wesen mit derjenigen Rücksichtslosigkeit, Kälte und Gewaltsamkeit, die er auf Erden ausgeübt hat.

Diese Lehre ist eine fundamentale Aussage, aber einige Heilslehrer gehen weiter und sagen, dass die Wesen drüben, ganz ebenso mit all ihrem Tun und Lassen wiederrum an ihrem zukünftigen Schicksal schmieden. Denn immer geht aus dem Tun und Lassen der Wesen auch alles Erleben der Wesen hervor. Immer wieder wird geerntet, was zuvor gesät worden war und immer wieder wird gesät, was in späterer Daseinsform wiederum geerntet werden wird und so fort. Dies hat zur Daseinssicht des "Samsara", des endlosen Umlaufs der Wesen geführt.

Immer wieder dringt auch die Kunde von einer erreichten "seligen Einheit", die die Inder samadhi nennen, der christliche Mystiker die unio nennt oder das alte China tao, durch Zeiten und Kulturen. Über die Möglichkeit, zu dieser seligen Einheit zu kommen, berichtet zum Beispiel Meister Eckehart in seinen Schriften. Es können viele Zitate von Erfahrern dieses seligen Lebens gebracht werden. Es gab zu allen Zeiten immer wieder Entdecker dieses Schrittes.

Der Buddha weist darauf hin, dass aber auch das samadhi-Leben ganz unterschiedliche Grade hat, wie das Begegnungsleben auch aus sehr unterschiedlichen Graden und Stufen besteht. Der hohe Grad innerer Ablösung und Reife jener Menschen besagt, dass sie zwar "die Spur des Vollendeten gefunden haben" und ihr folgen, dass sie aber noch nicht zur Vollendung gelangt, noch nicht Sieger sind.

Gerade der Anfang des geistigen Weges der inneren Läuterung wird oft beschritten mit Schmerzen, Tränen und Klagen. Diese erfahrenen und fast unvermeidlichen Nöte auf dem geistigen Wege haben es mit sich gebracht, dass die Lehren und Schriften derer, die in diesem geistigen Ringen waren, erfüllt sind von Ratschlägen und Mahnungen, wie man viele Gefahren dieses Weges meiden, die unvermeidlichen bestehen und überwinden könne, und was zu tun und zu lassen sei, um immer weniger beirrt und gehemmt vorwärtszukommen.

Die Reden des Buddha im Palikanon, die umfangreichste aller schriftlichen Überlieferungen ursprünglicher Heilslehren dieser Erde ist angefüllt und durchsetzt mit tausend solcher Wegweisungen und Ratschläge. Denn auch Prinz Siddhattha kam bei seiner Entwicklung zum Erwachten, zu einem Buddha, teilweise nur schmerzlich voran. Er ging fast sechs Jahre lang unmenschlich und übermenschlich schmerzliche Irrwege in dem Versuch, zu dem Ziel seiner richtigen Vorstellung zu gelangen, die innere Autonomie durch restlose Befreiung von der Sucht nach der durch die Sinne erfassbaren Außenwelt praktisch zu erreichen.

Erst als sein Körper völlig erschöpft war kam ihm die Erinnerung an das Erlebnis einer weltbefreiten Entrückung in seiner Kindheit. Nun erst konnte er diese richtig verstehen und erkennen als das Tor zur Erwachung, zur Freiheit und konnte diese geradewegs ansteuern und bald erlangen. Seine Mönche und Nonnen, seine bürgerlichen Nachfolger und Nachfolgerinnen konnten in den fast fünf Jahrzehnten seines Lehrens, Anleitens und Führens davon profitieren. Aber selbst von diesen nicht alle.

Einer seiner Schüler fragte ihn: "Wie ist das, o Herr, da es doch das erhabene Nirvana gibt und einen sicheren Weg dahin gibt und da Du selbst das Nirvana erlangt hast und darum der beste Wegweiser bist - wie kommt es nun, dass nicht alle anlangen, sondern nur manche anlagen?" Diesem Fragenden sagte der Erwachte, dass ja sogar von Menschen, denen der Weg zu einem Ort richtig beschrieben wird, manche den Ort nicht erreichen, manche ihn erst nach Umwegen erreichen und manche ihn direkt erreichen - "denn die Menschen sind sehr unterschiedlich." (Majjhima Nikaya 107)

Der Buddha hat vorausgesagt, dass die Versteher seiner Lehre im Laufe der Zeit immer weniger werden bis hin zum völligen Verschwinden der Lehre von der Erde. Heute, rd. 2500 Jahre später, ist das zweifellos zu merken. Daher auch die Not gerade bei den heutigen ernsthaft Strebenden. Mancher hat aus den Reden des Erwachten begriffen, dass es keinen Ausgang aus dem endlosen Samsara, kein Ende des Leidens geben kann, ohne vom inneren Dürsten, von Hinneigungen und Abneigungen abzukommen. Und er hat begriffen, dass das allein auf dem vom Erwachten näher beschriebenen achtgliedrigen Heilsweg möglich ist. Aber je weniger rechte Anleitung, Vorbild, Führung und andere Hilfen vorhanden sind, die es zur Zeit des Buddha gab, um so größer sind die Missverständnisse, die Irrtümer über die Lehren, über die Übungen und über die möglichen Ergebnisse. Die Zeit der sicheren Führung ist schon lange vorüber.

Aber der Buddha hatte seinerzeit auf unserer Menschenebene mitten in der Welt angefangen, ist wie wir aus der Welt hervorgegangen, war Mensch in der Welt wie wir. Also können auch wir über die Welt hinauswachsen, zur Erwachung gelangen.

In einem Bilde zeigt der Vollendete den unvergleichlichen Charakter seiner Vollendung und zeigt seine nicht mehr relative, sondern totale Transzendierung von Welt und Weltlichkeit: und vor allem zeigt er, wie durch ihn und nach ihm nun auch seine Schüler und geistigen Söhne zu genau der gleichen totalen Transzendierung zum Land der Sieger gelangen:

"Angenommen, Brahmane, ein Vogel habe acht oder zehn oder zwölf Eier gelegt und diese durch beharrliches Erwärmen und Bebrüten zur vollständigen Entwicklung gebracht; wie sollte da nicht jenem Muttervogel der Wunsch kommen: 'Ach möchten doch meine Kücklein mit den Krallen oder dem Schnabel die Eischale aufbrechen, möchten sie doch heil hervorbrechen!' - und jene Kücklein sind fähig geworden, mit den Krallen oder dem Schnabel die Eischale aufzubrechen.

Ebenso auch, Brahmane, habe ich in der wahnhaft dahindämmernden eiartig eingeschlossenen Menge als erster in dieser Welt die Eischale des Wahns durchstoßen und bin zu der unvergleichlichen vollkommenen Erwachung auferwacht." (Majjhima Nikaya 16 und 53, Anguttara Nikaya A VIII, 11)

Hier vergleicht der Erwachte, der Vollendete, sein früheres - und unser heutiges - Leben in der Welt der Begegnung mit dem dumpfen Dämmern des Vogels im ringsum abgeschlossenen Ei und seinen Durchstoß durch das Weltenei zur vollkommenen unvergleichlichen Erwachung vergleicht der Erwachte mit dem Durchstoß des Vogels durch die rings abschließende Eierschale hindurch zum eigentlichen Leben. Das gilt es zu fassen und zu bedenken: Es gibt einen Stand, einen erfahrbaren Heilsstand, von welchem aus das Weltsein und das Ich-bin-in-der-Welt-Sein mit Kommen und Gehen, mit Geborenwerden, Altern und Sterben, mit fortgesetztem Verschwinden und Wiedererscheinen so aufgebrochen und überwunden ist wie für den ins Freie durchgestoßenen Vogel das dumpfe Brutleben überwunden und das abschließende Ei aufgebrochen ist.

Aber so wie der Vogel im Brutei nie ahnen kann, wie das eigentliche Leben ist, das nach dem Durchstoß auf ihn wartet, ganz ebenso kann der im Weltstand Befangene, im Wahnbereich Brütende nicht ahnen, was der Heilsstand in der Vollendung ist. Dieses Nichtwissen drückten die Zeitgenossen des Erwachten nach seinem Entschwinden in einer schlichten ergreifenden Geste aus - da wird ein leerer Sitz dargestellt oder eine im Sand hinterlassene Fußspur: "Hier war einer, der ist nicht mehr zu fassen."

So wie der bebrütete Vogel nicht ahnen kann, was jenseits seines Durchstoßes auf ihn wartet, so wie der Traumbefangene nichts weiß von seinem wacheren Leben - so ist kein Weg und keine Möglichkeit, dass wir in unserem Wahnstand den Heilsstand begreifen. Die Vollendeten begreifen ihn, weil sie ihn erfahren, und sie begreifen zugleich, dass es keine Möglichkeit gibt, ihren Heilsstand den Wahnbefangenen begreiflich zu machen.

Um aber den im Wahnei befindlichen, im Leiden befangenen Wesen zu helfen, beschreiten die Buddhas den anderen Weg, indem sie ihm die Bedingtheit und die Bedingungen seiner Existenz Schritt für Schritt vor Augen führen, bis er begreift, dass das letzte Glied dieser sich gegenseitig bedingenden Erscheinungen, die insgesamt sein Leben ausmachen, ja, wieder identisch ist mit dem ersten Glied dieses Bedingungszusammenhanges (siehe Kapitel Entstehungsring). Wer das begriffen hat - die Determiniertheit der gesamten als "sein Leben" empfundenen inneren und äußeren Erscheinungen - dem stockt der Atem, der sieht seine Gefangenschaft im Weltei mit endlos sich umwälzender Wiederholung aller Erscheinungen, der menschlichen, der himmlischen und der dunkelsten. So entsteht aus dem Einbruch und durch den Einbruch der erschreckenden Erkenntnis von der lückenlosen Determiniertheit aller Erscheinungen zugleich auch die Determinante einer erschreckten Abwendung von ihnen: erst in diesem Augenblick wird endgültig der Wille geboren, dieser mühseligen entwicklungslosen Leidensumwälzung ein Ende zu machen. So wächst Sehnsucht, Wille und Kraft, alles zu tun, um vom Weltenei zur Stätte des Heils zu gelangen.

Ist auch die Stätte des Heils nicht beschreibbar - die Gefangenschaft im Weltenei ist beschreibbar und kann verstehen, wer "wenig Staub auf den Augen hat" und ernsthaft und geduldig in die Lehre des Erhabenen eindringt, der ja dieses "Weltenei" in allen seinen Bedingungen kennen lehrt.

 

Nach einem Artikel von Paul Debes in "Wissen und Wandel" 1980.